Schneeflocken im Kopf
FAS, 2019
Bei Yung Hurn weiß man nie so genau: Ist es wichtiger, Rapper zu sein als zu rappen? Ist das Schwachsinn? Oder Wiener Schmäh? Gibt sein Album „1220“ eine Antwort?
Vor kurzem erzählte Fler in einem Interview, wie er mal Yung Hurn im Berliner Promi-Restaurant „Grill Royal“ traf. Yung Hurn saß da mit einer Frau, die aussah „wie so eine verrückte Mode-Designerin“, und Fler, erfreut darüber, den Rapper aus Wien in seinem, Flers, „Wohnzimmer“ zu sehen, ging also an den Tisch der beiden und fragte: „Man, was machst du hier?“
Yung Hurn antwortete: „Ich esse.“
Er habe dann überlegt, ob er ihn schlagen solle, erzählte Fler, aber der Laden sei voll gewesen und schließlich sein Wohnzimmer, und überhaupt habe er gemerkt, der Arme sei kleben geblieben oder von einem anderen Planeten.
Und das sind ja wirklich so die zwei Optionen, die sich mit jedem neuen Video von Yung Hurn ergeben. Nimmt da ein selbsttätowierter Milchbub aus Österreich einfach einen Haufen Drogen, tippt irgendeinen Schwachsinn ins Handy (hier mal ein Beispielrefrain vom neuen Album: „Aber mir geht’s gut, gut, gut, gut, gut, gut, gut“), und absolut alle, vom Identitären Martin Sellner bis zum Schauspieler Lars Eidinger, feiern es, wegen Verweigerungshaltung, der neue Punk, Kunst? Oder stimmt, was jene Yung-Hurn-Fans behaupten, die keine komplexe Rechtfertigung heranziehen, nämlich dass ihr Süssiboi schlicht früher als alle anderen auf der Deutschrap-Erde verstanden hat, dass Texte keinen Inhalt brauchen, solange sie Klang haben, und es einfach sehr gut klingt, wenn jemand mit Wiener Schmäh „Lalala, lalala, lalalalalalalalalalalaaa“ nuschelt (weil mit Wiener Schmäh alles sehr gut klingt), was sicher kein Schwachsinn ist, sondern Dadaismus, also Kunst?
Seit seinem Durchbruch mit „Nein“ vor drei Jahren hat Yung Hurn auf gruselerregende Weise alles richtig gemacht. Er hat die meisten Interviews abgelehnt, sodass er nie wegen Omnipräsenz nervte oder den Level an Erfolg erreichte, ab dem ihn Auskenner nicht mehr gut finden konnten. Zugleich schrieb er so bösartig eingängige Hooks, dass sich dazu die HR-Abteilung auf dem Oktoberfest die Bierschaumfetzen aus den Mundwinkeln leckte. Weil er seine Musik als Mixtapes verschenkte, konnte er auf Vetements-Modenschauen auftreten und durch Zalando-Werbespots laufen, und trotzdem galt er weiter als Kommerzverweigerer, als Rebell, soweit man eben 2018 als Rebell gelten kann. Unter Einsatz des Wanda-Effekts – so peinlich über Kitschiges (Sex, Liebe) singen, bis der Kitsch unpeinlich wird – widerlegte er mit der „Love Hotel“-EP sogar das Naturgesetz, wonach kein Mensch zu deutschsprachiger Musik erotische Dinge tun kann.
Nun also erscheint „1220“, benannt nach der Postleitzahl von Yung Hurns Heimat, der Donaustadt, dem 22. Bezirk in Wien. Worin genau sich das erste richtige Album von den vorangegangenen EPs und Mixtapes unterscheidet? Keine Ahnung, jedenfalls nicht durch außergewöhnliche Länge. Eine gute halbe Stunde dauert „1220“. Von den ersten sieben Liedern sind sechs als Singles erschienen, die erste im August 2017. Ein bisschen Wiedererkennung erfreut, aber dann doch nicht so viel, zumal man ja auch innerhalb der Songs ständig wiedererkennt, weil eine Zeile der Zeile davor gleicht und die der Zeile davor.
Dabei macht Yung Hurn wieder so viel richtig, dass es fast nervt. Mit „Ok Cool“ hat er nach „Nein“ die andere grundlegende Haltung vertont, mit der man der Welt gegenübertreten kann, ein Song, von dem man denkt, dass Yung Hurn ihn wirklich bis aufs Letzte von Inhalt bereinigt hat, nur damit aus den auch erst mal sinnlos erscheinenden Lines „Mach die Tür zu, wer hat eine Karte jetzt? / Gib dein Handy, Linien – Zebra / Irgendwer ruft an, Handy läutet / Oben steht ,Mama’, bitte mach schnell, schnell“ dann doch wieder ein ultrakonkretes Bild entsteht: Wie ein paar, logisch, sehr gut aussehende, junge Menschen im Klo Koks vom Display eines iPhones ziehen und plötzlich die Mutter auf dem Handy anruft – das könnte auch die erste Szene einer Netflix-Serie sein.
Während andere singende Rapper wie Nimo, Ufo361 und Bausa, mit denen Yung Hurn schon zusammengearbeitet hat, in den letzten Monaten schamlos mit dem Schlagerhaufen gespielt haben, trennt Yung Hurn von ihnen, dem ganz großen Erfolg und dem Haufen immer noch das hauchdünne Plastik eines Kotbeutels, auf dem, in Frakturschrift, „Stil“ gedruckt steht. Von den Videos über die Outfits zu den Gaga-Texten: Seit jeher hat Yung Hurn hyperempfindliche Stilsensoren, und besonders feinfühlig agieren die bei der Auswahl der Beats.
Wie die „Love Hotel“-EP hat auch „1220“ der Österreicher Stickle produziert, der einst Bushidos Übergang vom Straßen- zum Stadienrapper begleitete. Sein sphärischer Sound zu „Bist Du alleine“ etwa erzeugt perfekt das Drei-Uhr-nachts-Gefühl, bei dem alles schwer und schwerelos zugleich ist. Nur so wird aus dem Track trotz tausendmal gehörter Zeilen kein Auf-dem-Dach-eines-Hochhauses-bis-zum-Sonnenaufgang-rauchen-Moment, sondern ein schöner Song über Alleinsein mit Whatsapp. „Baby, sag mir, was du heut machst / Hast du Zeit, ja?“, singt Yung Hurn, und er balanciert genau auf dem Grad zwischen Traurigkeit und Hoffnung, auf dem man so wankt, wenn im Chat mit der Gefragten die beiden Häkchen endlich blau werden und unter ihrem Namen „. . . schreibt“ erscheint.
Bloß war’s das dann eigentlich auch. Es ist kein Zufall, dass von den Tracks acht bis vierzehn keiner zur Single geworden ist, was auch gar nichts macht, weil man so einfach nach der ersten Hälfte von vorn anfängt und sie noch schneller auswendig kann, und dann wieder von vorn, bis die Songzeilen wie Schneeflocken durch den Kopf fallen, am Anfang versucht man noch gelegentlich, eine aufzufangen, um zu sehen, woraus sie besteht, aber bald gibt man auf, ermattet von der Sinnlosigkeit des Versuchs.
Dass „1220“ ermüdet, liegt an ein paar Zeilen zu viel à la „Ich bin so tief in ihr’m Hals, ja, Baby, sie schluckt, und sie lacht dann“, was bei Yung Hurn immer auch die Ironisierung von Rap-Klischees sein kann, aber selbst wenn es so ist, Ironie ermüdet auf Dauer halt auch. Zum anderen hat Deutschrap Yung Hurn, nun, da sein offizielles Debüt erscheint, eingeholt: Auf seinem neuen Album „Flizzy“ nuschelt längst auch Fler vor sich hin. Und dann wirkt es manchmal noch so, als sei es Yung Hurn wichtiger, Rapper zu sein als zu rappen. Ein paar Lieder klingen schon arg lieblos, als seien sie ihm so egal wie seine Konzerte. Der Verweigerer, der hinrotzt, macht eine gute Geschichte, der Streber oft die bessere Musik.
Das alles ändert bloß gar nichts daran, dass man nach wenigen Tagen die maximale Zahl der Presse-Album-Streams erreicht hat und simplere Konversationen mit Yung-Hurn-Zeilen bestreiten kann. Hast du Zeit, ja? Ok cool. „1220“ ist wie ein Chat-Dialog – worin es sich von den Platten und Büchern unterscheidet, die noch dem Briefroman gleichen -, mit dem zwei rausbekommen wollen, ob sie einander gut finden, nachts und müde. Die Hälfte versteht man nicht. Ein Drittel sind Sätze wie „Ich weiß nicht, was ich sagen soll“, weil irgendeine Fehlschaltung im menschlichen Gehirn dafür sorgt, dass man zwar kreativ und eigen über Aktiengeschäfte sprechen kann, aber über das Persönlichste nur mit den allgemeinsten Worten. Die anderen 16,67 Prozent sind wunderschön.