Wo isser, der Wolf?
ZEIT im Osten, 2025
Die Angst ist groß. Vor ihm, um ihn. In Brandenburg soll der Wolf bald gejagt werden. Oder doch nicht? Gute Argumente haben beide Seiten
Was die vergangenen Wochen im Brandenburger Agrar- und Umweltministerium geschehen ist, darf man sich wohl als Büro-Sitcom vorstellen. Kaum ist die Chefin (Ministerin Hanka Mittelstädt, SPD) in den Urlaub gefahren, kann im August ihr Staatssekretär (Gregor Beyer, parteilos, ehemals FDP) zeigen, wer der wahre Chef ist oder jedenfalls gern wäre. Schon lange hat er Pläne, von denen die Welt (und dort zuerst die Bild) nun erfahren soll. Er möchte Wölfe schießen, gern bald, gern viele. Dass eine dröge Fachbehörde des Hauses (das Landesamt für Umwelt) viel weniger Wölfe in Brandenburg gezählt hat, als er dort vermutet? »Lächerlich«, ließ Beyer sich zitieren. »Am Ende entscheide ich.«
Leider geht jeder Urlaub einmal zu Ende. Die Chefin kehrt zurück und ist überraschend immer noch Chefin. Öffentlich korrigiert sie ihren Mitarbeiter, sie soll sich auch bei ihrem Chef (Ministerpräsident Dietmar Woidke, SPD) über ihn beschwert haben. Am Montag teilt die Ministerin dann mit, dass sie »im Einvernehmen mit Herrn Beyer eine weitere Verwendungsmöglichkeit für ihn im Landesdienst prüfe«.
So endete diese Woche in Potsdam die Episode »Gregor allein im Haus«. Längst nicht vorbei ist hingegen die jahrealte Debatte, zu der Beyer ein paar neue Stichworte geliefert hat, der Streit über die Frage: Gibt es zu viele Wölfe? In Brandenburg, dem Bundesland mit den meisten Rudeln – manche behaupten: mit der höchsten Wolfsdichte weltweit –, diskutieren darüber seit Wochen einmal mehr Jäger mit Förstern und Politiker mit Wissenschaftlerinnen. Es geht auch darum, wen man dringender vor wem schützen muss. Menschen, Schafe und Hirsche vor dem Wolf? Oder den Wald vor dem Klimawandel – wobei Wölfe vielleicht sogar helfen können?
25 Jahre ist es her, dass erstmals in Deutschland wieder Wolfswelpen zur Welt kamen, in der sächsischen Oberlausitz. Fast genauso lange erfährt der Wolf eine öffentliche Aufmerksamkeit, um die ihn Waschbären und Wildschweine womöglich beneiden. Oder gibt es etwa eine Allianz Wildschwein Brandenburg? Einen Freundeskreis freilebender Waschbären? Der Wolf hat nicht nur diese Fangruppen, mit ihm befassen sich auch Parlamente, Arbeitsgruppen und geführte Wandergruppen auf »Wolfstouren«. Er hat eine laute Lobby, aber auch viele Gegner – und ein traditionell, ja, mythisch übles Image als wilder Hund, der seinen Artgenossen auf unheimliche Weise ähnelt, aber unbezähmbar ist.
Nicht nur in Brandenburg, aber dort besonders, haben sich Wölfe ausgebreitet, im Süden fast flächendeckend. Von mehreren Hundert Tieren geht das Landesamt für Umwelt aus; Gregor Beyer sprach von »deutlich über 2.000« Wölfen.
Wölfe kommen an Gartentörchen in der Uckermark, Spaziergänger im Spree-Neiße-Kreis finden Welpen auf Waldwegen – das sind nur zwei Meldungen aus diesem August. Wölfe reißen Schafe, Rinder, Ponys und sogar Rentiere im Cottbusser Tierpark. 279 Angriffe hat das Umweltlandesamt 2024 registriert.
Beyer, selbst ein Jäger, wollte daher ab der nächsten Jagdsaison Wölfe schießen lassen. Erst mal 15 Prozent des Bestands, später mehrere Hundert Tiere im Jahr. Auch Ministerin Mittelstädt hat schon beklagt, Menschen hätten Angst, in den Wald zu gehen, die Zahl der Risse von Weidetieren steige. Man werde »schlichtweg überrannt von der Wolfspopulation«.
Gegen diese Pläne protestierten Naturschützer wie die Landesvorsitzende der Grünen, Andrea Lübcke, die dem Umweltministerium »Schießwut« und einen »Kotau vor der Jägerlobby« vorwarf. Es gehe »um die Bedürfnisbefriedigung von Männern mit Flinten«.
Gemeint sein dürfte neben Beyer der Präsident des Landesjagdverbands, Dirk-Henner Wellershoff. Der ließ sich mal mit der Aussage »Ich liebe Trophäen« zitieren und begrüßte dieses Frühjahr im Magazin Pirsch Beyer und Mittelstädt als »zwei politisch Verantwortliche für den Jagdbereich, mit denen ich seit Jahren befreundet bin«. Als Wellershoff vor der Sommerpause in den Landtag geladen wurde, um über die Pläne für die Wolfsjagd zu sprechen, brachte er Fotos abgenagter Brustkörbe mit, an denen nur noch ein Schafskopf hing.
Für die Wolfsschützer ist klar: Hier haben es zwei Jäger auf ein Tier abgesehen, dessen Fell ihnen noch als Kaminvorleger fehlt und das ihnen obendrein ihre Beute wegfrisst, Hirsche und Rehe.
Von denen schießen Brandenburgs Jäger nämlich immer weniger. Zuletzt waren es pro Saison knapp 50.000 Rehe, vor zehn Jahren noch 70.000. Für Jäger wie Wellershoff der Beleg dafür, wie aggressiv die Wölfe unterwegs seien. Im Landtag warnte der Jägerpräsident, bald wüchsen Kinder auf, die nie ein Reh in freier Wildbahn sehen würden. Vom Jäger-Interesse an gut gefüllten Revieren, in denen man leicht den nächsten Braten schießen kann, sprach Wellershoff nicht.
Es könne schon sein, dass der Wolf hier und da Wildbestände dezimiere, sagt Sven Herzog, Professor für Wildökologie und Jagdwirtschaft an der TU Dresden. Entscheidender für die geringere Ausbeute sei aber, dass Rehe und Hirsche durch den Wolf scheuer geworden seien und sich seltener zeigten.
Das ist für sie auch deshalb einfacher, weil in Brandenburg ein Umbau der Wälder im Gange ist, der sie klimaresistenter machen soll: weniger Monokultur, mehr Laubbäume. Zwischen den Blättern junger Eichen und Buchen kann sich das Wild besser verstecken als zwischen Kiefernstämmen.
Hirsche und Rehe knabbern aber auch gern die Triebe der neu gepflanzten Bäume ab. Je Hektar Wald müssten ungefähr doppelt so viele intakte Jungbäume stehen wie bisher, damit »daraus stabile Mischwälder heranwachsen«, schreibt das Umweltministerium. Der Brandenburger Waldbesitzerverband forderte daher gerade erst, die Jagd-Schonzeit für Rehe im Sommer abzuschaffen. Den Wolf finden viele Forsteigentümer als Jäger eher nützlich.
Gibt es also nicht zu viele Wölfe, sondern zu viel Wild? So äußerte sich der langjährige Direktor des Leibniz-Instituts für Zoo- und Wildtierforschung, Heribert Hofer. Er sagte bereits 2024: »Die Jäger haben selbst dafür gesorgt, dass der Wolf nun ideale Bedingungen hat.« Die hochgepäppelten Wildbestände, denen man mancherorts im Winter noch Futter hinkippt, damit sie nicht in andere Reviere weiterziehen, bieten einfache Beute.
In der Wildbiologie gibt es die Weisheit, dass nicht die Zahl an Raubtieren den Bestand der Beutetiere reguliert, sondern das Nahrungsangebot die Zahl der Räuber. Gäbe es weniger Rehe, gäbe es demnach weniger Wölfe. Das bedeutet aber auch, man sollte den Wolf als Wildjäger nicht überschätzen; einer europaweiten Studie zufolge verringert er allein die Hirschdichte nicht. Dafür braucht es schon den Menschen.
Einen wie Axel Vogel, Hanka Mittelstädts Vorgänger im Umweltministerium: Der Grünen-Politiker wollte Rehe und Hirsche radikal dezimieren, damit der Waldumbau klappt. »Wenn der Verbiss zu stark wird, muss abgeschossen werden«, findet Vogel noch heute. Gerade Hirsche, die je Tier deutlich mehr Triebe fressen als Rehe, wollten aber viele Jäger in hoher Zahl in ihrem Revier halten, um sich mehr Exemplare mit prächtigen Geweihen heranzuziehen, wie »Züchter in freier Wildbahn«. Dreimal versuchte Vogel als Minister, das Landesjagdgesetz zu novellieren, doch am Ende triumphierte Wellershoff. Er freue sich über die Niederlage von Vogels Grünen bei der Landtagswahl vergangenen Herbst, sagte der Jägerchef vor ein paar Monaten.
Danach schien es, als hätten nun diejenigen freie Bahn, die für ein »aktives Wolfsmanagement« sind – ein Begriff, der nahelegt, dass jeder mit ein bisschen Vernunft dafür sein müsste, und der weichzeichnet, was das heißt: das gezielte Schießen von Wölfen. Beide Seiten, die Wolfs- wie die Wildjäger, haben ihnen zugeneigte Experten. Spricht man etwa den Wildökologen Herzog auf die These an, weniger Rehe würden auch zu weniger Wölfen führen, sagt er, »dieser natürliche Regulationsmechanismus funktioniert in unserer Zivilisationslandschaft nicht«. In südeuropäischen Ländern könne man sehen, dass der Wolf in die Städte komme, wenn er im Wald nichts mehr finde. Und wenn es so ein Überangebot an Wild gebe – weshalb reiße der Wolf dann überhaupt Schafe? Wendet man ein, dass sich auch Wölfe im Schnitt nur zu ein, zwei Prozent von Nutztieren ernähren und sonst von Wildtieren, entgegnet Herzog, in Summe seien es trotzdem eine Menge Übergriffe, von denen jeder einzelne den Tierhalter traumatisiere.
Tatsächlich sank die Zahl der Wolfsrisse jedoch zuletzt. Bedeutet das nicht, dass man lernen kann, mit dem Wolf zu leben? Dass Elektrozäune und Wachhunde Schafherden schützen können? Von den 279 Nutztierrissen im Jahr 2024 entsprach in mehr als 80 Prozent der Fälle der Schutz nicht den Empfehlungen des Umweltlandesamts.
Nein, sagt Herzog, es könne eher sein, dass die offizielle Risszahl zurückgehe, weil viele Tierhalter die Angriffe nicht mehr meldeten; darauf wiesen auch Umfragen seiner Studenten hin. Herdenbesitzern sei die Begutachtung nach einem Riss oft zu aufwendig. Auch einen wirksamen Schutz mit Hunden könnten besonders Hobbytierhalter nicht leisten, sagt Herzog und schließt mit dem Fazit: »Wir haben 25 verlorene Jahre im Wolfsmanagement.«
An dieser Stelle kann leicht wieder ein Gegenexperte auftreten, der stellvertretende Vorsitzende des Schafzuchtverbands Berlin Brandenburg zum Beispiel, Knut Kucznik. Der ist seit mehr als 30 Jahren Schäfer, seine Herde sei nie »geplündert« worden, und überhaupt: »Der Wolf gehört zur Landschaft.« Darauf müsse und könne man sich als Schäfer einstellen, sagt Kucznik am Telefon, mit Herdenschutzhunden. Der Wolf werde dann kapieren, wo es sich für ihn nicht lohnt. »Die Wölfe bei mir haben eine Umfrage abgehalten – Kucznik ist scheiße.«
Wer hat recht oder eher: Wer hat mehr Anrecht auf Schutz und möglichst wenige Einschränkungen? Schäferinnen und Ponybesitzer, die ihre Tiere ohne Hochsicherheitsvorkehrungen weiden lassen wollen? Bauern und Dorfbewohnerinnen, die auf ihren Feldern oder Spaziergängen keinem Wolf begegnen wollen? Der Wolf selbst? Hirsche und Rehe? Die Wälder?
An einem nassen Nachmittag im Süden Brandenburgs gibt Brain Röhrborn eine Rundfahrt durch sein Revier, um zu zeigen, dass man vielleicht nicht alles auf einmal haben kann, aber doch einiges. Im Kofferraum seines Geländewagens hechelt der Jagdhund Loki, Röhrborn raucht Zigarette, Ellbogen aus dem Fenster. Er ist Jäger und Pächter des Jagdreviers nahe Herzberg. Zudem Hirschrufer. Röhrborn kann also Brunftschreie imitieren, was er auf Bitte vormacht – ein, sorry, Röhren, das noch viel imposanter ist, als es hier klingt.
Jedenfalls, wenige Hundert Meter nach den Häusern des Örtchens Mahdel hält er an und zeigt auf eine Stelle neben dem Forstweg. Da habe er kürzlich ein Wolfsrudel gestört, als es sich über einen erlegten Hirsch hermachte. »Rotwild wird, wenn es so weitergeht mit dem Wolf, aussterben«, sagt Röhrborn. »Man opfert ein Tier für die Glorifizierung des anderen.« Das sei der eine Grund, weshalb er die Jagd auf Wölfe für richtig halte. Der zweite: »Das Problem ist nicht der Wolf an sich, sondern dass ihm Scheu fehlt.« So nah an Siedlungen dürfe der sich nicht herantrauen. Fast täglich bekommt er Videos von Wolfssichtungen, er spielt eines vom Vortag auf dem Handy ab. Ein Rudel zwischen Heuballen, gefilmt vom Bauern aus dem Traktor. »Wenn ein Tier bejagt wird, verhält es sich anders.«
Er würde mit wenigen Wölfen anfangen, auf die zielen, die Mensch und Nutztier zu nahe kommen, und die Jagd wissenschaftlich begleiten. Zugleich müsse man das Rehwild im Wald »kurzhalten«, damit genug gesunde Jungbäume wüchsen. »Ich verstehe mich als Vermittler«, sagt Röhrborn. Rehe schießen für den Schutz des Waldes, ein paar Wölfe für den Schutz von Menschen, Hirschen und Schafen. Sein Vorschlag ähnelt dem des früheren grünen Umweltministers Vogel – der wollte nämlich nicht nur deutlich mehr Wild jagen lassen, sondern auch schneller sogenannte Problemwölfe, die wiederholt Weidetiere reißen. Schon heute gibt es für sie eine komplizierte bürokratische Abschusserlaubnis. Erwischt werden sie fast nie. In Vogels fünfjähriger Amtszeit traf es zwei Wölfe, und einer war der falsche.
»Wölfe jagen ist nicht einfach«, sagt Röhrborn. Er sei sehr dafür, dass man überhaupt mal anfange, bezweifelt aber, dass sich eine Jagdquote von Hunderten Tieren im Jahr, wie sie Beyer und der Jagdverband forderten, erreichen lässt. »Die müssen Sie erst mal kriegen.« Gebe man pauschale Quoten aus, fürchtet auch Axel Vogel, werde man vor allem die dummen Wölfe treffen, während schlaue Schadwölfe davonkämen.
Viel Stoff für den »Dialog Wildtiermanagement Wolf« an diesem Donnerstag in Potsdam, zu dem noch Beyer eingeladen hatte und den nun Mittelstädt leitet. Aus deren Ministerium hieß es zuletzt, bis Ende nächsten Jahres wolle man zu einem aktiven Wolfsmanagement kommen, eine Quotenjagd sei dabei nur eine mögliche Maßnahme – das klingt eindeutig vage. Und neben politischen und rechtlichen stellen sich auch praktische Fragen. Wenn ein Tier gejagt wird, kann es passieren, dass es angeschossen entkommt. Jäger haben daher auf der Jagd immer eine Telefonnummer dabei, die eines Nachsuchenführers. Der kommt dann mit seinem Hund, um das verletzte Tier aufzuspüren und ihm den Gnadentod zu ermöglichen. Doch wer will seinen Hund auf einen angeschossenen Wolf hetzen?
Auch hier reichen die Meinungen wieder von »Ein kranker Wolf macht Hackfleisch aus jedem Hund« bis zu der eines knorrigen Hundeführers aus der Uckermark, der am Telefon sagt, er würde seinen Hund sofort einem Wolf nachschicken – wenn er es dürfte. Ein Wolf sei für einen Jagdhund auch nicht gefährlicher als ein Keiler, und beide seien ungefährlicher als eine Landstraße. Woher er das wisse? Ob er oder sein Hund es schon mal mit einem Wolf zu tun hatte? Nein, aber das wisse man eben. Manchmal hat man den Eindruck, in Brandenburg gibt es mehr Wolfsexperten als Wölfe.
Gerade weil der Wolf selbst sich kaum je fassen lässt, eignet er sich als symbolträchtiger Stellvertreter. Seinen Gegnern dient er dazu, dass sie sich als Anpacker mit gesundem Menschenverstand präsentieren können, denen die berühmten normalen Leute auf dem Land wichtig sind. Seine Verteidiger können für sich den Blick aufs größere Ganze in Anspruch nehmen, Waldsterben, Klimawandel.
Und der Wolf? Den kümmert das ganze Gerede natürlich nicht. Ende August haben wieder Wölfe im Nationalpark Unteres Odertal mehrere Schafe gerissen.