Ein Mann für alle Verdachtsfälle
ZEIT im Osten, 2025
Als junger Linker in Frankfurt (Oder) rannte René Wilke vor rechten Schlägern davon. Jetzt muss Brandenburgs neuer Innenminister einen Umgang mit der AfD finden
Ja, auch er klatscht Beifall, als der Wasserwerfer die brennende Barrikade löscht und ein Trupp Bereitschaftspolizisten die vermummten Randalierer wegträgt, und nur René Wilke selbst weiß, ob das auf seinen Lippen ein zartes ironisches Lächeln ist. Neben ihm klatscht der Brandenburger Polizeipräsident, auf der anderen Seite hat sich Wilkes Personenschützerin postiert und zerkaut einen Kaugummi, sie klatscht nicht. In den Reihen dahinter haben Väter mit durchgeschwitztem T-Shirt-Rücken ihre Kinder auf die Schultern gehoben, über so viel Action haben die ihre grün-weiße Zuckerwatte vergessen. Es ist Tag der offenen Tür der Polizei in Potsdam, und die will zeigen, was sie kann, vor allem ihrem neuen obersten Dienstherrn.
Seit zweieinhalb Monaten ist René Wilke Brandenburgs Innenminister. Wasserwerfer kannte er bisher eher von der anderen Seite, als Demonstrant. Mit 16 trat er in die PDS ein, und wenn ihm damals die Neonazis in seiner Heimat Frankfurt (Oder) Ärger machten, mussten ihm auch mal zupackendere Linke helfen, erzählt einer, der dabei war. Er selbst sei nie gewalttätig gewesen, sagt Wilke, und als Steinewerfer hat ihn auch niemand, mit dem man über ihn spricht, in Erinnerung. Statt für die Revolution zu kämpfen, kritisierte er Waffenexporte, Steueroasen und die AfD, in der »zutiefst gefährliche Menschen« seien, warnte er schon 2017. Nun ist Wilke zuständig für die Polizei, den Verfassungsschutz – und damit auch für den Umgang mit dieser AfD.
Überraschend hatte ihn im Mai Ministerpräsident Dietmar Woidke als Nachfolger für Innenministerin Katrin Lange (beide SPD) vorgestellt. Die hatte wiederum als mögliche Nachfolgerin Woidkes gegolten, bevor sie sich mit ihrem Verfassungsschutzchef über die Frage, ob die AfD als »gesichert rechtsextremistisch« einzustufen sei, zerstritt und schließlich zurücktrat. Mit dem 41-Jährigen Wilke holte Woidke den beliebten Frankfurter Oberbürgermeister ins Ministerium. Der gehört keiner Partei an, seit er 2024 wegen ihres »naiven Pazifismus« die Linke verließ. Außer bei den Frankfurtern kam Woidkes Wahl bei fast allen gut an. Wohl auch weil ein Parteiloser so wirkt, als hätte bei ihm allein die Kompetenz gezählt. Sogar die AfD, größte Oppositionsfraktion im Landtag, gestand Wilke einen »pragmatischen Blick« zu; der Tagesspiegel nannte ihn gar Woidkes »Retter von der Oder«.
Woidkes smarter Move beendete das Gerede von einer Regierungs- oder zumindest Woidke-Krise und ersetzte es fast sofort mit Gemunkel darüber, ob der 63-jährige Regierungschef hier auch seinen Wunschnachfolger präsentierte. Ein noch höheres Amt trauen alle, die man nach René Wilke fragt, ihm jedenfalls zu. Nicht von allen aber klingt es wie ein Kompliment.
Wie man auf Wilke blickt, verrät einiges darüber, was man von einem Politiker erwartet: dass er standfest bis stur bei seiner Haltung bleibt? Oder ist gerade heute die Bereitschaft, davon abzuweichen, um zu Kompromissen zu kommen, ein höherer Wert?
Als jüngster OB Frankfurts war Wilke jemand, der ein breites Parteienbündnis einen konnte – das gerade im Osten immer breiter sein muss, will es den ersten AfD-Oberbürgermeister oder AfD-Ministerpräsidenten noch verhindern. »René war immer der Gesprächsbereite«, sagt Wilkes Interimsnachfolger und langjähriger Stellvertreter Claus Junghanns von der CDU. Der Unvereinbarkeitsbeschluss der Union mit der Linken galt nicht in Frankfurt, zumindest nicht für den ausgebildeten Mediator René Wilke.
Es gibt aber auch Kritiker, die Wilke vorhalten, seine Kompromissbereitschaft gehe ihm vor Überzeugungen. »Für die bürgerliche Demokratie passt René wie die Faust aufs Auge«, sagt der BSW-Landtagsabgeordnete Sven Hornauf, der mit Wilke mehr als 20 Jahre lang gemeinsam bei den Frankfurter Linken war. »Da kommt es ja nicht auf Prinzipien an – vielleicht hat er die auch nie gehabt.«
René Wilke sagt: »Um zu Lösungen zu kommen, reicht es in einer Demokratie selten, einfach nur zu meinen, man hat selber recht und muss zu hundert Prozent das umgesetzt bekommen, was man für richtig hält. Ein gewisses Maß an Pragmatismus halte ich für zutiefst demokratisch, weil wir auf Kompromisse angewiesen sind.« Sicher, mit 16 sei er weniger pragmatisch gewesen. »Zugleich hätte der 16-jährige René Wilke wahrscheinlich auch Verständnis für den heutigen, weil ich schon immer nachvollziehen wollte: Warum ticken andere so, wie sie ticken?«
Er ist erst mal ein Zuhörer. Wenn er spricht, dann meist nach einer Pause und mit einer Ruhe, als hätte er keine Anschlusstermine. Zum Interview in seinem Ministerbüro in Potsdam serviert er Oolong-Tee aus »den höheren Berglagen Taiwans« in winzigen Schalen, was ihm dann endgültig eine Meister-Yoda-Aura verleiht. Über seiner Schreibtischlampe hängt noch eine Luftschlange, Ende Juni hatte er Geburtstag.
René Wilke lebte von Anfang an im Dazwischen. 1984 wurde er gerade noch in die DDR geboren, als Sohn einer Russin und eines Deutschen. Der Vater war Chemiker im Frankfurter Halbleiterwerk; nach dem Mauerfall, an den Wilke sich nicht erinnert, zog die Familie nach Moskau, dort arbeitete seine Mutter in der Poststelle der deutschen Botschaft. In Moskau sah er Waisenkinder, die ein wenig Wärme nur in der Kanalisation fanden, und Erfrorene auf Parkbänken. Der Kontrast zwischen diesem Elend und dem Kaviar-Prunk habe sich ihm sehr eingeprägt, sagt Wilke.
Als er elf war, kehrte die Familie zurück nach Frankfurt. René Wilke wurde Schülersprecher und schrieb für die Schülerzeitung, er debattierte und demonstrierte, gegen Hartz IV, für den Frieden. Ein »ausgeprägtes Gerechtigkeitsempfinden« habe er gehabt, erinnert sich Sandra Seifert, Fraktionsvorsitzende der Frankfurter Linken, die damals eine PDS-nahe Jugendgruppe betreute, in die Wilke kam.
Über jene Zeit, die später die Baseballschlägerjahre heißen würde, sagt Wilke: »Es war Teil meiner Jugend, rennen zu müssen. Also wegzurennen vor rechten Schlägertrupps.« Er erzählt, wie er sich schließlich mit Frankfurter Fascho-Führern getroffen habe, um einen Nichtangriffspakt auszuhandeln. »Für die ganz radikalen Linken war ich danach Persona non grata, Verräter«, sagt Wilke. Mit den Rechten sprach man nicht.
Jan Augustyniak, einst linker Hausbesetzer, später Sprecher des Bündnisses »Kein Ort für Nazis« und Wilkes Wahlkampfmanager, erinnert sich an das Verhältnis zwischen »parteiungebundenen Linken« und René Wilke in diesen Jahren: Einmal etwa, als die Autonome Antifa Frankfurt (Oder) zu einer Demo aufrief, habe Wilke öffentlich gemahnt, auf Gewalt zu verzichten, und sich von der Aktion distanziert – und lief dann in der letzten Reihe als Beobachter mit. Wenig später sei Wilke in heiklen Situationen doch froh gewesen, »dass es im linken Spektrum Menschen gab, die einem gewissen robusten Umgang mit Naziübergriffen nicht abgeneigt waren«, so Augustyniak, der heute Stadtverordneter der Linken ist.
Viele beschreiben Wilke als einen Früherwachsenen. Mit 19 war er PDS-Kreisvorsitzender, mit 30 direkt gewählter Landtagsabgeordneter. Auf seinem roten Rennrad fuhr er von Partei-Events zu Sitzungen. Nicht nur, weil Wilke ein wenig wie die jüngere, schmalere Version des Linken-Promis aussah, betitelte das Neue Deutschland ihn als »Gysi von Frankfurt (Oder)«. 2018, mit 33, wurde er der jüngste Oberbürgermeister der Stadtgeschichte.
Wenige Monate nach der Wahl kam es zu seinem auffälligsten realpolitischen Turn. Nach Provokationen vor einem Frankfurter Club war eine Gruppe Syrer mit Messern und Steinen auf Gäste losgegangen, woraufhin Wilke einen Paragrafen im Aufenthaltsgesetz fand, um die Männer ausweisen zu lassen – er, der vorher noch vor »Flüchtlinge willkommen«-Plakaten zu sehen gewesen war. Öffentlich diskutierte er seine Entscheidung mit Alena Karaschinski, der Vorsitzenden der Grünen, die Wilke gemeinsam mit der Linken als OB-Kandidaten aufgestellt hatten und nun »not amused« waren, wie Karaschinski heute sagt. Sie sagt aber auch: »Wenn René etwas tut, dann immer, weil er zu einer Überzeugung gelangt ist. Er ringt mit sich um eine innere Haltung, mit der er sich selbst im Spiegel anschauen kann, und vertritt sie dann sehr klar nach außen.«
Anstand, Hingabe, Ernst – es sind altmodische Wörter, mit denen Wegbegleiter Wilke beschreiben. Auch politische Konkurrenten gestehen ihm zu, dass mit ihm Frankfurt aus der Wendedepression kam und er fast so etwas wie Stolz zurück in die Stadt brachte. In Bürgerwerkstätten fragte er Frankfurterinnen nach ihren Lieblingsorten; auf Instagram erklärte er die städtische Kriminalitätsstatistik. »Man muss neidlos anerkennen, er ist ein Phänomen«, sagt Michael Möckel, Lehrer in Frankfurt und CDU-Fraktionsvorsitzender im Stadtparlament, der bei der Landtagswahl 2014 Wilke unterlag. »Der ist hier ein Popstar, selbst meine Schüler kennen ihn.« Die Bürgermeisterwahl im September wäre wohl eine Liebeserklärung an Wilke geworden.
Aber dann kam der Anruf aus Potsdam, und seither liest und hört man den Namen Wilke fast so oft wie den Namen Woidke, sodass man sich schon fragt, ob Wilke Woidke ist oder zumindest, wo Woidke ist. Als Innenminister hat Wilke in diesem Sommer zu vielem etwas zu sagen, zu den Waldbränden, dem Rechtsextremismus, den Grenzkontrollen. Zum Beispiel: dass man es in eineinhalb Jahren deutscher Einreisekontrollen verpasst habe, die Polen nicht im Stau ersticken zu lassen, werde dort als »richtige Respektlosigkeit« empfunden. Das sei besonders schlimm, weil im Westen Polens die Stimmung ja eigentlich proeuropäisch, prodeutsch gewesen sei. »Da bin ich ganz beim Ministerpräsidenten, der mal gesagt hat: Wenn das die deutsch-französische Grenze wäre, dann wäre das so nicht – aber es ist ja bloß die deutsch-polnische. Das ist ja nur da im Osten. Diese Arroganz ist wirklich schlimm«, sagt Wilke und schafft es dabei, gleichzeitig wie ein loyaler Minister und der Außenminister des deutschen Ostens zu klingen.
Wilke nannte die Grenzkontrollen aber auch schon eine »Art von Notwehr«. Als Parteiloser kann er sagen, was nicht nur für einen Linken-Politiker unmöglich wäre. Und tun. In seiner OB-Zeit lud Wilke Frankfurter Landtagsabgeordnete zu sich ein, um Anliegen der Stadt zu besprechen, zu der Runde gehörte auch Wilko Möller von der AfD, so was wie Wilkes langjähriger bester Feind, der 2018 gegen ihn bei der Bürgermeisterwahl verlor und ihn als direkt gewählter Abgeordneter ablöste.
Über den Umgang mit der AfD stürzte Wilkes Vorgängerin – die wollte der Partei in einer »inhaltlichen Auseinandersetzung« begegnen und soll dagegen gewesen sein, dass der Verfassungsschutz sie vom Verdachtsfall zu »gesichert rechtsextremistisch« hochstuft. Gegen beide Einstufungen klagt die AfD, die Verfahren laufen noch. Wilke versucht zu vermitteln, dass es in dieser Frage allein um die Einschätzung der Juristen beim Verfassungsschutz und in seinem Haus gehe, die ein Innenminister, falls er keine formalen Einwände habe, mittragen müsse, egal was er von der AfD halte.
Dass er mit ihr auch die inhaltliche Auseinandersetzung nicht scheut, ließ sich vor der Sommerpause im Landtag beobachten. Da behauptete die AfD, die Regierung wolle die Gründe, ihren Landesverband als rechtsextrem einzustufen, vertuschen – dabei hätte sie selbst erst mit ihrem Eilantrag vor Gericht deren Veröffentlichung verhindert, so der Innenminister. »Sie werden belogen!«, rief Wilke dem Publikum vom Rednerpult zu. Und der AfD-Fraktion: »Wir wollen, dass das ganze Land zu lesen bekommt, was Sie äußern, was Sie tun, was Sie treiben und was Sie mit diesem Land machen wollen.« Deutlich im Ton, eindeutig in der Sache legte er dar, was die AfD tun müsse, damit man das Dokument veröffentlichen könne. Und die tat das dann auch mehr oder weniger.
Hart gegen die AfD, mehr Härte aber auch bei deren Großthema Migration – so scheint Wilke vorgehen zu wollen, solange es kein Gerichtsurteil gibt. Asylbewerber, die während ihres Verfahrens untertauchen, sollen den Anspruch auf Asyl verlieren, forderte er gerade im Law-and-Order-Ton eines CSU-Innenministers: Man könne sich »nicht auf der Nase herumtanzen lassen«.
Wird man also bald zu einem Friedensgipfel in Potsdam zusammenkommen, vielleicht zwischen SPD und AfD, ähnlich wie damals Linke und Rechte in Frankfurt, mediiert vom Konfliktmanager René Wilke? Oder wird der eine ähnliche rote Linie vor der AfD ziehen wie die SPD unter Dietmar Woidke, der sich mit seinem Wahlkampfslogan »Wenn Glatze, dann Woidke« erfolgreich als letzter Demokratieverteidiger vor der AfD-Übernahme positionierte?
Glaubt man Sven Hornauf, der nichts von einer prinzipiellen Ablehnung jedes AfD-Antrags hält und mit seinem Abweichen von der Regierungslinie wiederholt die knappe Mehrheit der Koalition von SPD und BSW in Gefahr brachte, dann könnte Wilke bald der SPD beitreten und danach, von einem abdankenden Woidke unterstützt, als Ministerpräsident mit Amtsbonus zur nächsten Wahl antreten. Könnte – denn es gibt auch Stimmen, die an Wilkes geringe Erfahrung in einer Landesregierung erinnern. Oder eher auf einen Import von Franziska Giffey aus Berlin tippen, noch so ein Gerücht. Woidke versicherte gerade erst, die Brandenburger SPD habe selbst fähigen Nachwuchs. Er mache sich jedenfalls »keine Sorgen, dass René nicht die notwendige Geschmeidigkeit aufweist«, sagt die innerkoalitionäre Opposition Sven Hornauf.
In Frankfurt vermissen dagegen viele das Geschmeidige ihres Bürgermeisters – und sie würden es wohl eher lösungsorientiert nennen. Oder, wie der Linke Augustyniak: »René Wilke ist: das Gemeinsame suchen.« Den Frankfurter Weg, auf dem Wilke mehr als einmal die Richtung wechselte, seine Richtungswechsel aber auch erklärte, beobachtete man schon länger aus Potsdam. Dorthin pendelt Wilke nun mit dem Dienstwagen, einen Führerschein hat er selbst nicht; im Sommerurlaub fährt seine Frau das Wohnmobil, er macht den DJ.
In Frankfurt sei niemand auf Wilkes Abgang vorbereitet gewesen, sagt die Grüne Alena Karaschinski; ein Stadtpolitiker spricht von einer »für uns denkbar beschissenen Situation«. Bei der OB-Wahl im September tritt statt eines gemeinsamen Anti-AfD-Kandidaten eine CDU-Kandidatin an, für die Wilke früh warb, und eine SPD-Kandidatin, die von seiner ehemaligen Partei unterstützt wird. Ihr Gegenkandidat von der AfD ist Wilko Möller, mit dem Wilke schon vor Gericht darüber stritt, ob Möller einen »Wehrmachts-Spruch« (Wilke) gepostet hatte. Verteidigen ließ sich der damalige OB – einmal mehr Pragmatiker – von Sven Hornauf, denn ein guter Anwalt, sagt Wilke, sei der halt schon.
Auf dem Fest der Landespolizei steht der ehemalige Polizist Möller, nun Mitglied im Innenausschuss, immer wieder hinter Wilke und stellt Fachfragen, als wolle er seine Sachkunde zeigen. Von einem SEK-Hünen, der ein Gewinn für jede Wikingerserie wäre, will er wissen, ob man Polizeipanzer auch in munitionsbelasteten Waldbrandgebieten einsetzen könne. Für Wilke wäre es eine bittere Pointe, falls nun Möller in jenes Rathaus einzöge, das er in seiner Amtszeit teuer sanieren ließ, und seine Heimat die erste Stadt würde, in der ein AfD-Politiker als Oberbürgermeister regiert.