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DIE ZEIT, 2021

Auf Ibiza leben sieben TikTok-Stars hundert Tage zusammen in einer Zehn-Millionen-Villa. Ihr Ziel: Inhalte produzieren, mit denen sie es auf YouTube schaffen – oder gar im Fernsehen

Während der Morgenkonferenz fragt Tobi, ein 19-jähriger Mode-Blogger mit drei Millionen Abonnenten auf dem Kurzvideoportal TikTok, weshalb genau er einen Kühlschrank in sein nächstes Video einbauen sollte. Verschlafen und mit Wuschelfrisur sitzt er an einem Ende des massiven Vierecks aus dunklem Holz, die anderen sechs TikTok-Stars, mit denen er in der Villa auf Ibiza wohnt, haben sich in ihren Kapuzenpullovern an den langen Tischseiten über ihre iPhones und Müslischalen gebeugt. Das Objekt der Skepsis: ein mit Fruchtjoghurts und Puddings der Marke Dr. Oetker gefüllter Kühlschrank. Er summt neben dem Buffettisch, auf dem in den silbernen Warmhalteschalten des Caterers die Mittagessensreste vom Vortag eindicken.

„Uns persönlich bringt das ja gar nichts“, sagt Tobi, der wie die meisten hier den Nachnamen nicht verrät - Stalking-Probleme mit Fans -, zu der Betreuerin seiner Managementagentur, die mit ihrem MacBook zwischen den TikTok-Stars sitzt wie eine Lehrerin im Schullandheim. Doch bei aller Duz-Kumpeligkeit, die dem Reporter bis dahin entgegengebracht worden ist - bei der sich anschließenden Diskussion wird er vor die gläserne Esszimmertür gebeten. Nein, was es Tobi und den anderen bringt, Oetker-Joghurts, Batman-Spielfiguren und Casio-Uhren in ihren hunderttausendfach geschauten Sekundenvideos unterzubringen, wollen sie dann doch nicht verraten, jedenfalls nicht, wie viel Geld genau.

TikTok ist für unter Zwanzigjährige, was Facebook mal war: ihr wichtigstes Kontakt- und Informationsportal. Tobi und die sechs anderen Creator, wie sie sich selbst nennen, gehören zu den deutschen Star-Usern des chinesischen Videodienstes. Manche ihrer Clips erreichen ein ähnlich großes Publikum wie ein Tatort. Alex, der auf seinem TikTok-Kanal Trampolintricks zeigt, 1,8 Millionen Abonnenten hat und an diesem Morgen neben Tobi in sein iPhone 13 vertieft am Tisch sitzt, sagt: „Wer auf TikTok ist, hat mein Gesicht mindestens einmal gesehen.“ Heißt aber auch: Will Alex seine Reichweite ernsthaft steigern, muss er sich wohl ein Publikum auf anderen Social-Media-Plattformen aufbauen. Auf Instagram und YouTube, ganz altmodisch im Fernsehen. Bisschen absurd, aber es stimmt: Diese sieben TikTok-Stars wollen es auch auf YouTube schaffen. Oder halt TV-Show-Promis werden.

Um dem Ziel näher zu kommen, verbringen sie hundert Tage auf Ibiza in einer Zehn-Millionen-Euro-Villa, die ihre Agentur gemietet hat (inklusive Gärtner, Koch, Putzfrau und einer Handvoll langhaariger, selbst gedrehte Zigaretten rauchender Kameramänner). Eine Mischung aus Coworking-Space und Promi-Reality-TV. Ihre Reichweiten sollen sich, erstens, potenzieren, wenn sie bloß oft genug in den Videos der anderen Creator auftauchen. Zweitens sponsert YouTube das Projekt unter der Bedingung, dass jeder TikTok-Star eine bestimmte Anzahl sogenannter Shorts hochlädt. Das Format der wenige Sekunden kurzen Videos hat YouTube von TikTok übernommen. Denn auch YouTube wird alt und muss das jüngere TikTok-Publikum anzapfen.

In der pastellgelben Villa mit Blick auf das glitzernde Meer und die dunstige Silhouette der Burg über Ibiza-Stadt leben außer Alex (Accountname: alex_freerun) und Tobi (tobi.you):

Lucy (lucy.lacht, 1,5 Millionen Abonnenten), die Freundin von Alex.

Rick (tricksmitrick, 1,9 Millionen), ein Sportmodel, das Alex noch aus dem Turnverein in ihrer gemeinsamen bayerischen Heimat kennt, mit 27 Jahren der Älteste, für seine Teenie-Fans sei er wie ein großer Bruder, sagt Rick.

Theresa (theresakirchner, 1,4 Millionen), schlagfertige Sprecherin der Gruppe, die mit Rick, Lucy und Alex sonst in einer WG in Berlin wohnt - über den Beziehungsstatus von Theresa und Rick spekulieren nicht nur ihre Fans, sondern auch sie selbst gern in Videos.

Andrea (andrea_subotic, 2,1 Millionen), die sich in ihren Clips oft zu Chart-Hits über Geschlechterklischees lustig macht.

Nadine (nadinebreaty, sieben Millionen), eine 23-jährige Rostockerin, die während der Lockdowns mit Videos etwa über Mobbing, psychische Gesundheit und ihre Pigmentstörung Piebaldismus zum meistabonnierten weiblichen TikTok-Star Deutschlands aufstieg.

Alle sieben können oder haben etwas, das der Durchschnitt nicht kann oder hat, und sei es nur ein überdurchschnittliches Aussehen. Dennoch können sie auch nichts so gut, dass es diese Fähigkeiten wären, derentwegen sie bekannt geworden sind. Eher scheinen sie das zu beherrschen, was Paris Hilton mal als das Haupttalent eines Stars benannte: „Die Leute müssen glauben, dass dein Leben besser ist als ihres.“

Ganz in Einklang mit der Hilton-Logik kann man sich das Anwesen auf Ibiza vorstellen: clearasilblauer Pool, Trampolin mit Meerblick, in der Auffahrt ein Basketballkorb. Ein sehr teurer Spielplatz. Die Nachbarvilla gehört Zinédine Zidane, was die TikTok-Stars kaum beeindruckt, die meisten sind zu jung. Mitte Oktober hat es angenehme 23 Grad. Man könnte meinen, zwischen den Palmen, die im Park stehen wie riesige Ananas, seien Ferien für immer.

Verschiebt man den Bildausschnitt jedoch um wenige Grad, hängen in den Palmen die Boxen der WLAN-Verstärker, und neben dem Basketballkorb stapeln sich Pizzapappen und die Kartons der Gratispakete, die Werbekunden den TikTok-Stars schicken. Damit vor der Kamera alles entspannt wirkt, braucht es das disziplinierte Befolgen von Tages- und Drehplänen. Mindestens eine Handvoll Videos drehen alle jeden Tag, dazu kommen Instagram-Shootings, Online-Treffen mit Fans und Trend-Analysen. Welche Songs funktionieren gerade auf TikTok, welche Challenges? Auf 60, 70 Stunden in der Woche schätzt der Gründer ihrer Agentur WeCreate, Adil Sbai, ihre Arbeitszeit.

„Du kannst dich nicht ausruhen, der Druck ist krass“, sagt Sbai, ein 36-jähriger ehemaliger Online-Poker-Profi, der mit seinen Stars in der Villa lebt; genauer gesagt wohnen die Stars in der Villa, Sbai schläft in einem Nebengebäude im Weinkeller. Der Erfolg von TikTok beruht auch auf einer Funktion des Algorithmus, die man wahlweise als demokratisch oder perfide ansehen kann. Auf TikTok können unbekannte Nutzer einen viralen Hit landen, weil der Algorithmus - der bestimmt, was die Nutzer zu sehen kriegen – die Zahl der Abonnenten kaum berücksichtigt. Für die Stars heißt das andersrum: Um in den Trends der App zu bleiben, muss man ständig neue Videos liefern. „Zwei Tage ohne Video sind für mich auf TikTok sehr viel. Der Algorithmus merkt sich das. Man wird bestraft“, sagt Nadine. Die Strafe: weniger Aufmerksamkeit. Hinzu kommt: Man verdient auf YouTube auch einfach besser.

Am späten Vormittag, als die Sonne schon sticht, drehen alle sieben zusammen ein Video für YouTube, Thema: boyfriend challenge. Die vier Frauen (hier: Mädels) stellen den drei Männern (hier: Jungs) Aufgaben: Wer die meisten Punkte sammelt, ist der beste Boyfriend und gewinnt ein Date mit der Frau seiner Wahl. Im Hof ist ein Jurytisch für die Mädels aufgebaut, davor drei Sonnenliegen. Erste Aufgabe für die Jungs: in 30 Sekunden aus der Küche fünf Sachen holen, die eine Freundin braucht, wenn sie ihre Tage hat, und auf die Liegen legen. Die drei Kameramänner und der Fotograf sprechen ihre Laufwege ab, um sich während des Drehs nicht in die Quere zu kommen.

„Drei, zwei, eins – los!“, ruft Theresa. Die Jungs stürmen in die Küche, die Kameracrew läuft gebückt hinterher.

„Ich habe meine Tage gar nicht“, sagt eines der Mädels am Tisch.

„Nie? Auch keine Stimmungsschwankungen?“, fragt Lucy.

„Nie.“

„Sei froh.“

„Egal, wir machen einfach so Frauenklischees“, sagt Theresa.

„Aber das ist voll schwierig“, sagt Nadine.

„Leute, ihr habt nur noch zehn Sekunden!“, ruft Theresa.

Alex kommt aus der Küche, eine Wasserflasche und zwei Decken unterm Arm, Rick und Tobi hinter ihm.

„Alex, was machst du da? Du hast zwei Decken mitgebracht?“, ruft seine Freundin Lucy.

Die Jungs pitchen ihre Auswahl (Tee, Schokolade, Decke). Viel Gelächter, viel Geschrei.

„Ich bin supergeräuschempfindlich“, sagt Nadine, die Arme um den Oberkörper gelegt. „Dieses Gekreische ist so scheiße für mich.“

Die Jury stimmt für Rick, der an beides gedacht hat, an Tee und Decke. Nach der Aufgabe verschwindet Nadine in ihrem Zimmer.

Danach sollen die Jungs ein Candle-Light-Dinner aufbauen. Mit Klebeband teilt Theresa den Esstisch in drei gleich große Drittel ein. Dann läuft der Countdown.

Nach 60 Sekunden stehen in Ricks Drittel: ein Leuchter mit drei Kerzen, ein leeres Weinglas und ein Teller mit einem Klecks Vanillepudding. Alex hat ein Baguette, Wein, Olivenöl, Teller und Besteck und dazwischen ein Teelicht. Tobi zwei Gläser Rotwein und eine Schüssel Cracker.

„Tobi, das sieht aus wie ein cooler Abend“, sagt Theresa.

„Ja, halt Wein trinken und Cracker essen“, sagt Tobi.

„Voll geil“, sagt Andrea.

Es fehlt aber die Kerze: zu wenig Candle-Light. Alex gewinnt.

Tobi nimmt einen Schluck aus einem der Weingläser - hinter der Kamera. Denn TikTok verbietet Werbung für Alkohol oder Zigaretten durch Minderjährige, und er ist zwar schon 19, aber sicher ist sicher.

Bei den letzten beiden Aufgaben (die Mädels zum Lachen bringen, ein Zimmer vor Besuch der „Schwiegereltern“ aufräumen) zerfällt die konzentrierte Dreh-Disziplin. Rick schaut oft aufs Smartphone, weil später noch ein aufwendig inszenierter Show-Boxkampf mit einem Kollegen online gehen soll - aber jetzt hat ihm ein YouTube-Mitarbeiter geschrieben, dass das Video gesperrt werden könnte. Gewaltdarstellung. Zu riskante Moves, die Zuschauer nachmachen könnten. „Das ist mein kompletter Content“, sagt Rick, der mit seinen Clips Kindern beibringen will, wie man Saltos und Flickflacks macht, und für seine Stunttricks schon mal Warnhinweise von TikTok vor seine Videos gesetzt bekommt. „Wofür bin ich Creator geworden?“, fragt er. „Das macht gar keinen Spaß mehr.“

Der Agenturchef Sbai kommt von seinem Arbeitsplatz am Bartresen herüber, wo er in Jogginghose und mit Basecap über dem Laptop saß. Er schlägt Rick vor, einen Warnhinweis vors Video zu schalten und die heikelsten Stellen rauszuschneiden. „Willst du auf YouTube einen Strike riskieren? Das ist richtig Scheiße, da bist du ein halbes Jahr gesperrt. Das ist Game over.“

Beim Mittagessen gratuliert Theresa Rick dazu, dass er jetzt hunderttausend Abonnenten auf YouTube hat. In Videos reagiert er enthusiastischer auf solche Follower-Zuwächse als jetzt am Tisch.

Warum das Ganze, wenn es doch so viel Disziplin braucht und das Feedback durch Likes und Aufrufe dermaßen brutal direkt ist?

„Möglichst nicht in einen geregelten Job kommen“, das sei immer sein Ziel gewesen, sagt Rick. Coole Orte, coole Leute kennenlernen. Seine Mutter ist Musiklehrerin, der Vater Reggae-Sänger, sein erstes Handy hatte Rick mit 16, in Villen spielte seine Jugend nicht. Klar feiere er es, wenn er sich überlebensgroß auf Werbeplakaten sehe. Der Preis sei eben der Stress. „Man wacht damit auf und geht damit schlafen“, sagt er und hält sein iPhone hoch. „Ich bin auf TikTok, dann habe ich einen YouTube-Kanal, einen Instagram-Kanal, Snapchat. Man kann immer etwas hochladen.“

Nadine ergänzt: „Ich versuche immer, morgens alle meine TikToks für den Tag zu machen, damit ich sie weghabe. Das ist meine Dream-Vorstellung.“ Dann sagt sie den für die erfolgreichste deutsche TikTokerin doch relativ absurden Satz: „Je weniger man am Handy hängt, desto kreativer ist man und glücklicher.“

Später am Nachmittag baut Rick ein Stativ im Hof auf und clippt sein Smartphone daran. Ein leichter Wind bewegt die Wedel der Palmen, man hört das metallische Schnipp-Schnapp der Heckenschere von Paco, dem Gärtner. Am ehemaligen Jurytisch der Mädels rauchen die Kameramänner, nicht zu sehen auf Ricks TikTok-Livestream. „Wir sind bei 1200 live, gebt mal richtig Gas, Leute!“, ruft Rick aufgedreht in die Handykamera. Sein Freund Alex springt ins Bild, und sie tauschen ein paar lockere Boxhaken aus. „Wir sind jetzt schon 1,7 k im Stream. 1800. Noch vier Minuten, dann geht mein Boxkampf auf YouTube online. Ihr seid ja geisteskrank!“ Hinter der Glasfront des Esszimmers, das zum Rondell des Hofs rausgeht, wischt die Putzfrau den Boden. Zu den rauchenden Kameramännern, die Rick zuschauen, setzt sich Tobi mit einer Dose San Miguel und fragt, ob sie ihm eine Zigarette drehen. Nadine kommt mit einem Buch vorbei, „Die Kunst des guten Lebens“, und verschwindet gleich wieder zum Lesen.

„Noch zwei Minuten, dann ist der Boxkampf online“, ruft Rick seinem Livestream-Publikum auf TikTok zu: „Kommt jetzt alle mit mir rüber auf YouTube!“

Dann bricht er den Stream ab und stellt das Smartphone zwischen Aschenbecher und Flaschen auf den Tisch der Kameracrew. Er ruft YouTube auf: die Live-Premiere seines Boxkampfvideos. Einen „Nicht nachmachen“-Hinweis hat er in die Video-Beschreibung geschrieben, rausgenommen hat er nichts. Auf dem kleinen Display schauen Rick, Tobi und die Crew den Spaßkampf, genau acht Minuten und eine Sekunde lang, weil man in YouTube-Videos ab acht Minuten Länge mehr als eine Werbeunterbrechung schalten darf.

Gesperrt wird Ricks Boxvideo nicht. Einen Monat später hat er 150.000 Abonnenten auf YouTube.