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Klassenclownssprecher

FAS, 2021

Auf seinem frustriert-aggressiven Debüt hat Slowthai ein kaputtes Brexit-Großbritannien beschrieben. Mit dem neuen Album „Tyron“ wendet sich der Rapper jetzt dem nächsten Problem zu: dem Zeug im eigenen Kopf

Vor ein paar Jahren überlegte Slowthai, damals war das noch mehr ein Spitz- als ein Künstlername, welchen Satz er im Leben am meisten gesagt hatte, und den ließ er sich auf die Brust tätowieren. „Sorry Mum“ steht da seitdem oben am Brustbein. Sorry für Schuleschwänzen, Drogen, Pub-Schlägereien und Ausflüge auf gezockten Motorrädern. Sorry für dieses Tattoo und alle anderen. Sorry, weil immer zu wenig Dankbarkeit. „Northampton General 1994/Mixed race baby born / Christmas, well a week before / Mum’s 16/Families poor“, so beschrieb Slowthai mal seinen Start ins Leben. Ein herzliches Willkommen klingt anders, kalt war es, ärmlich, und als Einlaufmusik kamen bloß die Jingles vom Weihnachtsschlussverkauf.

Man kennt sie, die uralte Underdog-Geschichte. Tausendmal gehört, immer wieder super. Vielleicht wurde sie nie besser erzählt als in der Hip-Hop-Version von den Söhnen alleinerziehender Mütter, von den Außenseitern, die zu Rap-Stars wurden. Dass auch Slowthai mit sechsundzwanzig eine Aufstiegsgeschichte erzählen kann, ist das eine – aber wie er diese seine Geschichte erzählt hat, damit sie am Ende wirklich stimmt; dieses Wie ist das eigentlich Bewundernswerte.

Slowthai, bürgerlich Tyron Frampton, bekam seinen späteren Künstlernamen, weil der kleine Ty so langsam redete. Als der Rapper sein 2019 erschienenes Debüt- und Durchbruchalbum „Nothing Great About Britain“ aufnahm, wusste er logischerweise von den Traditionen, in denen ein rappender britischer Provinztyp steht, der vom Aufwachsen mit den lads zwischen Pint und Playstation erzählt. Den Jungsalltag und seine Dramen hatte schon ein Musiker wie Mike Skinner (als The Streets) vor bald zwanzig Jahren mit viel Genauigkeit, Charme und einem Englisch beschrieben, dessen Vokabeln im „Oxford English Dictionary“ meistens den Zusatz „beleidigend“ haben.

Unüberhörbar ist bei Slowthai daneben auch der Einfluss von Punk und Grime. Die Aggro-Energie, den Druck, die Lust am Lärm, die hat er von dort und ja, auch das Politische. Denn „Nothing Great About Britain“ ist untrennbar persönlich und politisch, die nostalgische Erinnerung eines Sozialbaukinds an die Jungs und die Jugend – und seine Anklage wegen ihrer Zukunftslosigkeit: Slowthai vs. UK. Von wo aus könnte man trotziger die „Höhlenmenschen-Mentalität“ der Brexiteers beklagen, wie Slowthai das getan hat, als an einer Bushaltestelle in seiner Heimatstadt Northampton, die mit sechzig Prozent für den Austritt gestimmt hat?

Dieser Mix aus Mikrokosmos Pub und wahnsinnig machender Weltpolitik, aus Wut und Depression, aus Rap und Punk hat Slowthai eine Reihe Chart-Erfolge und Nominierungen für Preise eingebracht, sowohl für den britischen Mercury Prize als auch in den Vereinigten Staaten für die Grammys, dazu Gastauftritte auf den Alben der Comic-Helden-Gruppe der Gorillaz und des kalifornischen Rap-Stars Tyler, The Creator. Am Ende bekam er den Mercury Prize nicht, aber auch nichts bekam bei der ganzen Preisverleihung 2019 so viel Aufmerksamkeit wie Slowthai für seinen Auftritt, als er auf die Bühne kam, um den Hit „Doorman“ zu spielen, und als Symbol für alle Türsteher, die einen wie ihn nie ganz reinlassen werden, einen abgeschnittenen Kopf von Premierminister Boris Johnson hochhielt.

Stolzer Hass auf die Repräsentanten des Königreichs ist selbst wieder eine sehr britische Tradition. Bei Slowthais Konzerten hängt zwar oft ein Union Jack über der Bühne, aber man weiß nie, ob das Hohn ist und ob er gleich brennt. Dem verhassten Populismus begegnet Slowthai mit seinem privaten Gegen-Populismus. Als Werbung fürs Debütalbum ließ er in Städten spiegelnde Plakate aufhängen, in denen die Vorbeigehenden sich selbst sahen unter der Überschrift: „Something Great About Britain“. Slowthai ging auch schon auf die „99p“- und die „Bet ya a £ 5er“-Tour, deren Tickets genauso wenig kosteten: 99 Pence beziehungsweise fünf Pfund.

Diese „Ich bin einer von euch“-Gesten haben Slowthai zum Klassensprecher einer jungen Arbeiterklasse gemacht, die immer weniger Arbeit und immer mehr Überwasserhaltejobs hat, der Masse der Kaputtgesparten und Wegrationalisierten. Das alte Dilemma ist es, dass er mit jedem Hit über sie ein bisschen weniger zu ihnen gehört.
„Einerseits ist so ein Titel etwas Positives“, sagt Slowthai bei einem Zoom-Gespräch über seine Rolle als Sprecher einer Schicht. „Ich spreche für Leute, die unterprivilegiert sind und nicht meine Möglichkeiten haben. Ihre Welt ist das, was ich kenne und in mir ist. Aber es ist auch bloß ein Titel. Ich kann und will nicht kontrollieren, wer meine Musik aus welchen Gründen hört. Ich bin ja kein Diktator. Wer immer sie braucht, dem gehört sie.“

Hinter ihm an der Wand hängt ein pixeliges Fußballtrikot, vage ist das Getränkedosen- und Kabeldurcheinander eines Kellerstudios zu erkennen. Hier, im Haus seiner Mutter in Northampton, hat Slowthai mit seiner Freundin einen Großteil des Pandemiejahres verbracht und sein zweites Album „Tyron“ aufgenommen. Manchmal genieße er die Zwangsruhe sogar ein bisschen, sagt er, kochen habe er gelernt, und er habe aufgehört zu trinken. Fürs Ende eines Interviewtags als Zoom-Kachel hat er erstaunlich viel Energie, immer mal wieder gestikuliert er sich halb aus dem Bild raus, ohne insgesamt wahnsinnig viel zu sagen. „Ich spreche nicht so gern darüber, was Songs für mich bedeuten oder wie ich etwas meine. Die beste Kunst bedeutet doch dir etwas ganz anderes als mir.“

Stimmt, aber das sind nicht so gute Voraussetzungen für ein Interview über seine Musik. Ein bisschen was erzählt er dann natürlich doch und noch mehr auf dem Album selbst. Das nach seinem Vornamen benannte „Tyron“ ist das, was man ein Konzeptalbum nennt. Die erste Hälfte der vierzehn Songtitel, in Großbuchstaben geschrieben, setzt da an, wo das Debüt aufgehört hatte. Harte, basslastige Musik, um sich durch einen Club zu schubsen oder zumindest mal wieder die Wohnung aufzuräumen. Gleich am Anfang taucht die Grime-Legende Skepta auf, einer der Begründer des schnellen, elektronischen Hiphop-Subgenres aus Großbritannien, das in den letzten Jahren mit Stars wie Stormzy ein Revival erlebt.

Den gemeinsamen Song „CANCELLED“ kann man mit seinem provozierenden Refrain als Antwort verstehen auf Slowthais Mini-#MeToo-Moment vor einem Jahr, als bei der Preisverleihung der „NME Awards“ einem betrunkenen Slowthai ein Sketch mit der Komikerin Katherine Ryan verunglückte und er nicht merkte, dass der Spaß irgendwann vorbei war, und er immer unangenehmer darauf drängte, dass man sich später doch noch im privaten Rahmen treffen könne. „How you gonna cancel me?“, fragt Skepta jetzt im neuen Song stellvertretend in den Shitstorm von damals hinein. Slowthai hat sich für das, was ein buhendes Publikum als Belästigung empfand, bei Ryan entschuldigt. Die erwiderte trocken: So ein „süßer Junge“ könne mit ein bisschen Pöbelei mit Sicherheit keine Komikerin in Bedrängnis bringen.

Trotzdem, ein Nachgeschmack ist geblieben, vor allen bei Slowthai selbst, der bloß wegen des rasierten Kopfs, der Tattoos und Konzerte, die er in der Regel crowdsurfend in Unterhose beendet, nie als stumpfer Hooligan-Proll missverstanden werden wollte. Mit dem zweiten Teil von „Tyron“ erlaubt Slowthai den bisher tiefsten Einblick in seinen Kopf, und er entpuppt sich dabei als ziemlich trauriger Klassenclown. Eine Rolle, die wahrscheinlich auch mehr seiner Rolle damals als Schüler entspricht. „Die erste Hälfte des Albums handelt von dem Teil der Persönlichkeit an mir, die andere Leute sehen, auch sehen wollen“, sagt er. „Die zweite Hälfte ist über den Teil von mir, den ich niemanden sehen lassen will.“

Da ist zum Beispiel das berührende „feel away“ über das Auseinanderfallen einer Beziehung, eingespielt mit der Minimal-Band Mount Kimbie und zum Teil gesungen vom traurigsten britischen Experimentalpop-Sänger James Blake – und einem Psychotrip von Musikvideo dazu, in dem Slowthai unter anderem ein Baby gebärt und in Kuchenstücke aufgeschnitten wird. Ein Horrorkurzfilm, der mit absurden Splattereffekten die Zartheit des Lieds bricht und sie irgendwie trotzdem noch verstärkt. Gewidmet hat Slowthai den Song seinem jüngeren Bruder, der mit einem Jahr an einer Muskeldystrophie starb.

Eine andere Single, die heimliche Corona-Hymne „nhs“, handelt scheinbar bloß vom „Same old shit, just another day/ I was in my head, feelin’ dead, feelin’ microwaved“. Es geht um die sprichwörtlichen zwei Seiten einer Medaille und darum, dass die glänzende Seite die hässliche braucht, um zu glänzen. Sinnbildlich steht dafür der „National Health Service“ im Titel.

Und so ist es eben kein Widerspruch, dass man den Song einerseits gern anspielen würde, wenn mal wieder ein Politiker an einem Stehpult redet, auf dem „Stay home – protect the NHS“ steht, als wäre es nicht mindestens ein sanfter Zynismus, dass jetzt die Menschen ein Gesundheitssystem schützen sollen, das sie schon lange vor der Corona-Pandemie nicht ausreichend geschützt hat. Eine Studie in der medizinischen Fachzeitschrift „The BMJ“ (ehemals: „British Medical Journal“) kam 2019 zu dem Schluss, dass Großbritannien, verglichen mit neun ähnlich wohlhabenden Ländern, darunter Deutschland, für die Gesundheit der Bevölkerung pro Kopf fast zweitausend Dollar weniger ausgibt als die Länder im Durchschnitt (3825 Dollar gegenüber 5700 Dollar) und einen der niedrigsten Personalschlüssel im Gesundheitswesen hat.

Und es ist ja nicht so, dass in Deutschland niemand darüber diskutiert, ob das mit der Krankenhausprivatisierung wirklich so eine gute Idee war. Auf der anderen, glänzenderen Seite ist absolut vorstellbar, wie Ärztinnen und Pfleger mit Augenringen unter den Augenringen in ihre Schutzanzüge steigen und dabei „nhs“ spielen. Denn das ist Slowthai: Das System ist kaputt, aber die Leute darin sind schon okay.

Man merkt, so ganz gelingt ihm die (sowieso etwas künstliche) Trennung in innen und außen, laut und leise, Umweltbeschreibungen und gerapptem Selbstdiagnoseformular nicht. „Tyron“ endet mit dem zweieinhalbminütigen „adha“: Ein melancholischer Schluss, sogar die Telefonnachricht an einen Freund wurde eingebaut, denkt man schon – da geht auf den letzten Sekunden noch mal hektisches Geballer los. Slowthai schreit fast, bevor seine Stimme wegdriftet und das letzte Wort verhallt: „smile“. Und da kann man sich natürlich selbst denken, ob das ein gutgelauntes Lächeln oder eher ein amüsiertes Absurditätsgrinsen ist.