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Siebzehn

FAS, 2019

Am Morgen der Hochzeit zog ich ein blaues Hemd mit Blumen drauf an. Darin fühlte ich mich schön sommerscharf. Das war ja ein Grund, auf so eine Hochzeit zu gehen: gut auszusehen, besser als früher. Mit der Braut, die in der Schule meine beste Freundin gewesen war, verbanden mich längst mehr Erinnerungen als neue Erlebnisse.

Sie sahen aus wie damals. Keinem war das Haar ausgefallen, niemand dick geworden. Es hätte unser Abiball sein können, der fast genau vor sieben Jahren stattgefunden hatte. Als ich nach der Trauung an die Reihe kam, dem Brautpaar zu gratulieren, wusste ich nicht, was ich sagen sollte. Die Braut war stark geschminkt, und das Maskenhafte verstärkte mein Gefühl der Entfremdung.

Alptraumwandlerisch fanden wir unsere Rollen. Der Zyniker der Klasse war zynisch. Die Umsorgende holte Biere. Der Sonnyboy wurde beflirtet. Ich sagte nichts und sah mir dabei zu. Die Witze verstand ich nicht. Ihre neuen Anekdoten kannte ich nicht. Mir fehlte eine ganze Sprache. Und so trank ich Shot um Shot, weil es die einzige Chance war, sich zu verbrüdern, Jägermeister, den Likör Ficken und den Wodka aus dem untersten Fach des Supermarktregals, die Sorte Alkohol, die ich schon mit siebzehn nicht gemocht hatte.

Promilleweise stieg die Selbstsicherheit. Braungebrannt, reisedurchfallschlank: Der Anzug saß gut, den ich von einer Recherchereise mitgebracht hatte. Erst später, auf den Fotos, sah ich, dass ich im Gegenteil ganz blass gewesen war. Das Hemd zerknittert, der Ausdruck schicksalsergeben – Blitzlichtaufnahmen einer Nacht vor der Notaufnahme.

Auf der Tanzfläche suchte ich den Blick der Braut. Über ihr Gesicht wanderten rote und grüne Lichtpunkte. Unsere Bewegungen erschienen mir verlangsamt, als tanzten wir als einzige zu „Chopped & Screwed“-Remixen. Ich lehnte mich vor, um zu sagen, was es für ein toller Abend sei, aber als ich den Mund öffnete, hatte sie sich einem Mitschüler zugewandt und verstand mich nicht.

Draußen im Park war es dunkel, und weil es kurz geregnet hatte, roch die Luft ganz frisch. Ich rauchte eine Zigarette, obwohl ich nicht rauchen kann. Der Abend verschwamm, und bloß das Glas in der Hand behielt eine beruhigend kühle Kontur. Auf dem Weg nach drinnen lächelte ich allen Frauen zu, und die mit Freund lächelten zurück und von den anderen ein paar.

Es war eine Uhrzeit erreicht, zu der man zu zweit ging oder allein blieb. Mir war klar, worauf es für mich hinauslief. Ein urmächtiger Bannzauber hielt von dem Fest die Jahre fern, die nach dem Abitur vergangen waren. In der Nacht würde ich die Person bleiben, von der die anderen dachten, dass ich sie wäre. Forever siebzehn. Ich würde noch etwas trinken und tanzen und dann über die Landstraße nachhause stolpern. Es war unaufhaltsam und störte mich nicht. Ehrliche Euphorie erfasste mich, ähnlich der, die ich während mancher Partys im Sommer nach dem Abitur verspürt hatte. Wie damals kam es mir vor, als feierten wir nicht bloß, weil wir bald auseinandergingen, sondern auch, dass wir es taten.

Das gedämpfte Licht machte alle schön. Ein Lied lief zum zweiten Mal. Ich sträubte mich nur kurz, als dem Beispiel des Bräutigams folgend die Männer die Hose auszuziehen hatten. Längst fühlte ich mich nicht mehr anwesend, war ein Gespenst, das von draußen durch die beschlagenen, bodentiefen Scheiben blickte: Frauen, die Gläser hielten und lachten, Männer, deren Hosen auf den Knöcheln lagen, Lichtpunkte über die haarigen Beine tanzend.

Ich weiß nicht, warum wir zusammen rausgingen. Wir setzten uns auf eine Bank an dem kleinen See im Park. Vielleicht sagte ich so was wie: „Du bist wirklich die Attraktivste hier.“ Da bin ich aber nicht sicher. Ich erinnere es so, dass ihre Lippen näherkamen. Übervoll. Bizarr lasziv. Ruckartig riss ich mich weg und, das weiß ich leider wieder genau, übergab mich.

Sie brachte mir Wasser und ging. Ich stand von der Bank auf. Hinter den Fenstern wogten Silhouetten zu dumpfer Musik. Auf der Landstraße balancierte ich über die Seitenmarkierung, setzte mich für eine Pause ins Gras, verlor meinen Schlüssel und schaffte es, meine Mutter anzurufen. Ich war so dankbar, als in der Dunkelheit die Scheinwerfer ihres Golfs auftauchten.

Als ich im Bett lag, überlegte ich, ihr etwas Unlustiges zu schreiben: „Nächstes Mal kein Fisch“ oder „Hättest du mich nicht schneller küssen können?“ oder nur einen Kotzsmiley. Aber ich tat es nicht.

Ich war ja nicht mehr siebzehn.