Russische Revolution
Tagesspiegel, 2018
Kyrillische Schriftzeichen auf übergroßen Pullovern und sowjetische Embleme auf trashigen Trainingsanzügen: Der Look aus den Plattenbauvierteln des Ostens erobert den Westen.
Vor sechs, sieben Jahren begann das. Hatten viele Teenager Anfang des Jahrtausends noch aussehen wollen wie Surfer aus Kalifornien, hypergesunde Körper in Hollister-Shorts, verblich nun ihre Bräune, die Fitness-Oberarme verkümmerten. Locken fielen, einen Bart trug nur, wer musste, alle anderen rasierten sich den bleichen Schädel kahl. Um die mageren Brustkörbe schlackerten Pullover in Übergröße. Großstadtjugendliche stopften ihre Adidas-Jogginghosen in Sportsocken. Auf den Trainingsjacken prangten gigantische Logos – Nike, Champion, Reebok –, und man konnte das als reines 90er-Jahre-Revival missverstehen, die amerikanischen Sportmarken des goldenen Hip-Hop-Zeitalters, die Skaterlässigkeit, die endlich die Röhrenjeans sprengte, wären da nicht oft seltsame Zeichen auf den T-Shirts und Trainingsanzügen gewesen: kyrillisch. Daneben wehten kleine russische Flaggen.
Nein, hier sehnten sich nicht nur alternde Designer in New York, Paris und Berlin nach ihrer Jugend – hier erinnerten auch Designer aus Moskau und Tiflis an ihre 90er Jahre, ihr Aufwachsen in der zerfallenden Sowjetunion. Und zu ihren Helden erkoren die Modemacher aus der Ex-UdSSR die Gopniki. Jene Frauen und Männer der Unterschicht, vor allem Männer, die am Straßenrand in der Russenhocke lungerten. Ihre Beine gespreizt und angewinkelt, ihreArme ruhen auf den Knien, der Hintern berührt nur knapp nicht den Boden. So saßen sie da mit ihren gefälschten Adidas-Trainingsanzügen, kauten Sonnenblumenkerne und tranken Billigwodka, während sie warteten, dass der Tag vorbeiging, und dann machten sie am nächsten Tag weiter, kauend, trinkend, wartend.
Wie wurde der Unterschichtenprolet der zerfallenen Sowjetunion zum Modeideal der globalisierten Jugend von heute? Verrät das irgendwas über das gar nicht so gute Verhältnis zwischen Russland und dem Westen? Also: Warum wollen alle Gopniki sein?
Das Wort Gopnik kommt aus dem Russischen und leitet sich wahrscheinlich von Gop-Stop ab, einem Slang-Ausdruck für Straßenraub. Es könnte allerdings auch von GOP stammen, so kürzte die bolschewistische Regierung nach der Oktoberrevolution 1917 ihre Armenhäuser ab. Das alte Verb gop wiederum, ein Begriff der Umgangssprache, bezeichnet das Schlafen auf der Straße.
Welches kalte Nichts den Gopnik nun gebar – letztlich eh egal. Es zählt ja, was einer aus seiner Herkunft macht. Der Gopnik hat, das ist nicht übertrieben, das Maximum herausgeholt. Aus dem sowjetischen Plattenbau hat er es auf die Pariser Laufstege geschafft, vom Verhöhnten wurde er zum Besungenen und er, der saufende, kleinkriminelle Nichtsnutz hinterm Eisernen Vorhang, wurde zum weltweiten Schönheitsideal.
Vielleicht liegt sein Aufstieg schon am Wort: Sowjetunion. Ein Wahnsinnswort. Dunkel und roh, das Feuer im Autoreifen vor einem monolithischen Plattenbau. Zumindest können sich das all die Unter-30-Jährigen so vorstellen, die den Einparteienstaat bloß aus der Schule kennen oder aus Geschichten ihrer Eltern, aber nie den Alltag in der UdSSR erleben mussten.
Von den Gopniki inspiriert und sie zugleich glorifizierend ist die Post-Sowjet-Mode. Das Rotzige der Jogginghose verbindet sie mit der Wärme von Fußballschals, das Rohe schlechtsitzender, zusammengewürfelter Kleidungsstücke mit der Nostalgie von Hammer-und-Sichel-Aufdrucken.
Keinem ist das so gut gelungen wie Gosha Rubchinskiy, einem 33 Jahre alten ehemaligen Friseur aus Moskau. Mit Adidas hat der Designer kürzlich eine WM-Kollektion aufgelegt; überhaupt orientiert er sich oft am Fußball sowie an der Skaterszene und sowjetischen Uniformen. Rubchinskiy und seine Freunde Demna Gvasalia, in Georgien geborener Kreativdirektor von Balenciaga und Chefdesigner von Vetements, und Lotta Volkova aus Wladiwostok, die Starstylistin eben jener beiden gefeierten Labels, haben die Post-Sowjet-Mode bekannt gemacht. Dann haben sie H&M und Urban Outfitters kopiert, um die Gopniki noch viel bekannter zu machen.
Während die Welt die Fußball-WM in einem Land ausspielt, das sich als Erbe der Sowjetunion sieht, schmückt der Gopnik-Style die Dörfer Westeuropas mit kyrillischen Buchstaben. Vielleicht ein Zufall – oder gar keiner. Denn die Post- Sowjet-Mode passt gut zum Zeitgeist.
Da ist die Genderlosigkeit. Übergroße Pullover, Trainingsanzüge und Logo-T-Shirts kann jeder tragen. Zugleich, nur eines ihrer Paradoxe, fehlt der Post-Sowjet-Mode alles Weiche, das bei Unisex-Kleidung oft langweilt, sodass breitbeinige Junghumoristen wie die YouTuber Ost Boys sie in ihren Videos verbreiten können und der in Kiew geborene Rapper Olexesh sie besingt: „Wipp-in-der-Hocke-Style, Gopnik.“
Dazu kommt die Verweigerungshaltung. Die hippsten Trainingsjacken sehen aus wie Fälschungen vom Polenmarkt, und das sind sie manchmal auch. Post-Sowjet-Mode können 15-Jährige mit 20 Euro Taschengeld anziehen. Nicht die Originale von Gosha Rubchinskiy, dessen T-Shirts beginnen etwa bei 80 Euro, aber die Adidas-Anzüge mit vier Streifen. Und damit liegen sie eigentlich noch näher am originalen Original, den Gopniki, die nach dem Fall des Eisernen Vorhangs die gefälschten Westmarken mit den allergrößten Logos kauften.
Überhaupt: Ist die Russenhocke nicht die einzige Haltung, um dieser Welt als 15-Jähriger entgegenzutreten? Also gar nicht, sitzen bleiben, warten und die Welt verachten? Im Wortsinn: eine Verweigerungshaltung? Einer der Teenie-Helden, der Wiener Rapper Yung Hurn, selbst Rubchinskiy- und Vetements-Träger, ist so gesehen die vertonte Russenhocke. Bekannt machte ihn ein Lied, auf dem es ihm gelingt, zwei Minuten mit dem Wort „Nein“ zu bestreiten.
Bloß ist Verweigerungshaltung nicht dasselbe wie Verweigerung. Gosha Rubchinskiy und seine Freunde kämpfen nicht gegen den Kommerz der Modeindustrie, sie sind die Modeindustrie und verdienen Millionen mit ihren Entwürfen der Unterschichts-Ästhetik; Yung Hurn macht Werbung für Zalando. Allerdings wollen auch Teenager nicht ewig in der Russenhocke bleiben, denn sie ist recht unbequem. In ein paar Jahren werden sie Abitur machen, studieren und einen Job haben, und irgendwann bleiben kaum mehr Möglichkeiten, sich zu verweigern. Deshalb tragen heute genauso viele 25-Jährige ihr Gopnik-Outfit ins Büro wie 15-Jährige ihres in die Schule. Mode ist eine billige Art, um zu rebellieren. Sie kostet nur Geld.
Rubchinskiy erklärt den Erfolg seiner Post-Sowjet-Mode damit, dass er „eine wachsende linke Jugend auf der Welt“ einkleide. Die wolle zwar nicht den Kommunismus zurück, aber einige seiner Werte: Solidarität und Gleichberechtigung. Dagegen kann man kaum etwas haben, wohl aber gegen den Irrglauben eines Designers, eine Jugendbewegung für eine bessere Zukunft anzuführen. Rubchinskiys Mode verspricht diese nicht, höchstens eine bessere Vergangenheit.
Die weltweite Sehnsucht nach der angeblich guten alten Zeit versuchte der inzwischen verstorbene Soziologe Zygmunt Bauman im Buch „Retrotopia“ zu erklären. Je weniger eine Gesellschaft an ihren Fortschritt glaubt, schrieb Bauman, desto enger rücke sie am wärmenden Lagerfeuer der Erinnerung zusammen. Oder eben am brennenden Autoreifen. 18 Jahre nach Putins erster Wahl zum Präsidenten fühlt sich Rubchinskiys Heimat Russland zunehmend zukunftslos an.
So bricht die Post-Sowjet-Mode auch nicht die kulturelle Dominanz der Vereinigten Staaten. Der sowjetische Gopnik hat den kalifornischen Surfer als Schönheitsideal abgelöst – Putins Russland aber nicht Trumps USA als Fixpunkt der Kulturproduktion. Die Serien kommen von Netflix, der Trap aus Atlanta, die Geschichten für die Welt erzählt weiterhin Amerika.
Im Urlaub nach Kalifornien fliegen und auf Wellen in den Sonnenuntergang reiten, kann jeder, der es sich leisten kann. Vorm Plattenbau Tag für Tag Bierdosen knacken, Vorbeilaufende anpöbeln und sonst möglichst nichts tun – in einer Leistungsgesellschaft schwierig. Das reizt ja so daran. Niemand will in der Haut der Gopniki stecken. Aber jeder möchte ein paar Sommer lang ihre Kleider tragen.