Irgendwo da bei Köln
DIE ZEIT, 2023
Rainald Grebe ist einer von Deutschlands größten Kleinkünstlern, seine Karriere begann im Untergrund. Im Keller seiner Eltern in Frechen
Ein paar Minuten vor der vereinbarten Zeit (11 Uhr) erscheint eine Silhouette hinter den Vorhängen des Reihenhauses mit der Nummer 54, so ziemlich die einzige Bewegung in der Straße an diesem hitzeträgen Vormittag. Von irgendwoher knattert ein Häcksler. Die Haustür neben der »Familie Grebe«-Plakette öffnet sich, und in ihrem Rahmen, unter den gesammelten »C + M + B«-Kreidesegenssprüchen seit 2012, umarmt Rainald Grebe seine Mutter, eine schick zurechtgemachte Dame Ende 80: »Tschüss, Mama, ja, bis bald.«
Grebe wirft sich zwei Rucksäcke über die Schulter und kommt durch den Vorgarten zur Straße – Zeit, ihn schnell zu mustern: ausgeblichenes Käppi, tief hängende Jeans, mindestens ein Loch in einem der Adidas Superstars, auf der Nickelbrille Spritzflecken (eventuell Zahnpasta). Sehr offensives »Mir egal«, dieser relikthafte Slacker-Look.
»Meiner Freundin habe ich auch einmal Frechen gezeigt«, sagt Grebe nach der Begrüßung, »da waren wir in 20 Minuten durch.« Verheißungsvoller Auftakt unserer Tour durch »Frechen bei Köln«, wie Grebe den Ort seiner Herkunft nennt.
Rainald Grebe, 52, ist einer von Deutschlands größten Kleinkünstlern. Seit Jahrzehnten schreibt er Lieder, Bücher, Theaterstücke und Hörspiele, in denen es oft um die bundesdeutsche Mitte geht, deren wurschtige Durchschnittlichkeit. Einmal, vor bald 20 Jahren, war auch »eine Art Hit« dabei, wie es über Grebe im Personennachschlagewerk Munzinger nüchtern heißt, die berüchtigte Länderhymne Brandenburg. Bisschen zu oberflächliches Provinz-Bashing, findet Grebe heute, da er seit Jahren mit seiner Partnerin und seiner Tochter in einem Dörfchen in Brandenburg lebt.
Auch dem Ort seiner Kindheit und Jugend hat Grebe eine seiner gefürchteten Liebeserklärungen gewidmet. »Ein Freibad, ein Marktkauf, ein Drive-in / Eine Fußgängerzone mit Ramschläden«, besang Grebe 50226 Frechen. Und: »Seit ich fort bin, hat sich viel getan / Es gibt jetzt einen neuen Zubringer zur Autobahn«.
Dieses – jetzt bitte schön aber auch einzigartig langweilige – Frechen wollen wir mit Grebe ansehen und darüber reden, wie ihm diese heile BRD-Welt sich einlösender Wohlstandsversprechen der Siebziger- und Achtzigerjahre das Material lieferte, aus dem er seine Kunst und seine Karriere machte. Er wird sich bemühen, leicht zu klingen, dennoch wird sich immer wieder eine Schwere auf den Vormittag legen, für die Frechen ausnahmsweise einmal nichts kann. Grebe hat eine Autoimmunerkrankung, die sich bislang durch keine Medikamentenkeule aufhalten ließ und die bei ihm Schlaganfälle auslöst, mittlerweile hatte er elf. Die Krankheit, der Tod, das sind die Themen, die ihn beschäftigen.
Vor dem Elternhaus erzählt Grebe, dass er in seinem Kinderbett geschlafen habe; am Abend zuvor hat er seit Längerem wieder eine Show gespielt, in Köln. Ein paar Texthänger habe er gehabt – auch im Gespräch fallen ihm Wörter nicht ein, sein Hirn sei »ein Nudelsieb« –, aber er sei zufrieden, dass es überhaupt geklappt und außer seinem Techniker wohl niemand die Lücken bemerkt habe. Seine Mutter, eine pensionierte Gymnasiallehrerin, kam zum Konzert, der Vater, einst Dozent für Buchwesen und Karl-May-Experte, verlässt das Haus kaum mehr – »da ist die Pflegestufe erreicht«.
Kurzer Blick auf den hellen zweigeschossigen Flachdachbau, den Eigenheimtraum von Grebes Eltern aus den Sechzigern, wie er sich rechts und links identisch anschließt und einen ganzen Straßenzug bildet – und von heute aus betrachtet wieder zeitgemäß minimalistisch aussieht: Was war das für eine Kindheit in diesem Haus, in dieser Siedlung?
»Bis zwölf war alles okay«, sagt Grebe. Seine drei Jahre ältere Schwester krawallte da schon gegen die Frechener »Kleinbürger«, als er sich noch fragte, was und wen sie meinte. Es war doch eigentlich ganz schön. Schlimmer Verdacht: Sprach sie auch von den Tellern bei ihnen zu Hause, die der Vater an die Wand genagelt hatte? Vom, natürlich holzvertäfelten, Hobbykeller? Den Eltern: dem Vater, einem Bauernsohn aus dem Siegerland, der Mutter, einem aus Breslau geflohenen Bunkerkind?
»Dass diese Generation den Partykeller erfunden hat ...«, mit seiner Mischung aus Zuneigung und Häme präsentierte Grebe das in seinem Kabarettprogramm als lakonische Pointe.
»Dann kam die – wie heißt das? – Pubertät und das Gefühl, dass mir was vorenthalten wird.« Dass irgendetwas fehlt, das hart genug ist, damit man sich dagegen auflehnen kann. »Ich habe mich aber auch nicht getraut, auszuziehen«, beschreibt Grebe sein revoltierendes, gut erzogenes Teenie-Ich. »Mit 16, 17 bin ich runter in den Hobbykeller, in dem ich rauchen konnte und ein Klavier stand. War dann ein halber Auszug.« Im häuslichen Untergrund schrieb Grebe erste Gags und Lieder.
Vor dem Haus schaut er die Straße hoch zu einem Wendehammer. »Das war immer der Spruch meiner Eltern, wenn Gäste da gewesen waren: Da könnt ihr wenden. Muss man dazusagen, sonst weiß man das ja nicht.« Auf der Wendeplatte hätten sie als Kinder Tennis gespielt, jedenfalls bis der Arzt nach Hause kam, der dort wohnte. »Demonstrativ ist der in den Center-Court reingefahren mit seinem Porsche und hat da geparkt. Dann war das Match vorbei.«
Der Wendehammer, Wäschespinnen und der ewige Waschbeton - man läuft durch diese Straßen wie durch ein bundesrepublikanisches Freiluftmuseum oder das Zuhause der von Grebe im gleichnamigen Lied besungenen Familie Gold:
Unsere Eltern haben uns mit Hanuta beworfen,
unsere Nachbarn mit Nivea-Creme.
Es hat uns an nichts gefehlt,
aber genau das war das Problem.
Als könne er es selbst nicht glauben, sagt Grebe mehrfach: »Original von damals. Alles.« Vielleicht ist es kein Zufall, dass die AfD hier bei der letzten Kommunalwahl 2020 bloß vier Prozent bekam. »Hier ist noch alles wie immer.« Außer vielleicht, dass heute nicht mehr ganz so viele glänzende Mercedes-Mittelschichtsmodelle durch die Straßen rollen und vermehrt Fiats des mobilen Pflegedienstes Lichtblick.
Es geht auf einen Feldweg, der die letzte Häuserreihe vom Wald trennt. Hier machte der zwölfjährige Rainald die Beobachtungen für sein erstes Druckwerk, das ornithologische Fachbuch Die Vogelwelt von Frechen. Auflage: 20 vom Vater handlaminierte Exemplare.
In dieser Zeit zeigte sich endgültig die Klassengrenze, die durch das Viertel verlief und nun Freundschaften beendete. Dahinten die »Klötze«, so Grebe, gutbürgerliche Reihenhäuschen, dort drüben, vielleicht hundert Meter entfernt, die »Blöcke«, Mehrfamilienhäuser der, kurz und brutal gesagt: Asis. »Die gingen auf die Haupt- oder Realschule, wir aufs Gymnasium.« Grebe erinnert sich an eine Schlägerei mit einem Jungen aus den Blöcken, der gerade noch sein Freund gewesen war und ihm jetzt vorwarf, sich für was Besseres zu halten. »Als Kind war ich gefürchtet, richtig gewalttätig, habe Mädchen wie Jungen niedergemäht. Es war ein Blutrausch.«
Wir stehen im Schatten des höchsten Plattenbaus, heute ein Altenheim. Davor ein Campingwagen mit dem Aufkleber: »Hier wird Diesel noch mit Liebe verbrannt.«
Laut Wikipedia ist die Kerngemeinde Frechen ein »langgestrecktes Straßendorf«, aber als Grebe das hört, regt sich in ihm doch ein lokalpatriotischer Verteidigungsimpuls. »Das mit dem Dorf stimmt nicht.« Man habe ja, nach diversen Eingemeindungen, 50.000 Einwohner. »Das ist eine Stadt! Eine City! Die hat sogar eine Fußgängerzone! Es gibt auch Sushi jetzt in Frechen, hab ich gehört.« Na gut, das wollen wir doch mal sehen.
Mit dem Auto fahren wir die fünf Minuten zum Citycenter, und Grebe kann gerade noch aufs Eiscafé Dolomiti zeigen, vor dem sie saßen, wenn sie die Schule schwänzten, und wie eine Stadtführer-Parodie ausführen: »Da ist der Marktkauf, mit Tiefgarage.« Dann sind wir auch schon wieder durch. Einige Hundert Meter weiter halten wir an einem Sportplatz, »dort ging man sonntags nach der Kirche hin«. Einen Sonntagsbraten gab es natürlich auch, made by Vati. »Für die Show war er zuständig. Für die alltägliche Küche, über die keiner redet, die Mutter.«
Auf dem Parkplatz des Sportgeländes deutet Grebe dahin und dorthin, wo mal was war, das man nicht mehr sehen kann: seine Judohalle (»Asbest«), der Lieblingsitaliener der 1.-FC-Köln-Spieler (»Schutzgeld«). Von einer Litfaßsäule schälen sich ausgeblichene Veranstaltungsplakate. »Kultur in Frechen: etwas abgeblichen«, kommentiert Grebe. Vielleicht ist das der Moment, ihn zu fragen, ob inzwischen auch seine Kunst etwas – nicht bloß gewollt – Ausgeblichenes hat, ihr Stoff (Hanuta und Nivea-Creme) genauso wie die Inszenierung (Grebes Signature-Kopfbedeckung zum Beispiel, eine Federhaube formerly known as Indianerschmuck).
Grebe antwortet sehr korrekt und selbstkritisch, dass man »gewisse Standards, die man mal übernommen hat, hinterfragen« müsse. Er sagt sogar: »Mein Witz ist strukturell rassistisch.« Das klamaukt er dann wieder weg und erklärt Diskriminierung am Beispiel der Hafermilch. »Man disst die pflanzlichen Menschen. Normale Milch – und Hafermilch. Da geht's los.« Schwierig, keinen zu verletzen, soll das wohl bedeuten. In seiner Autobiografie schreibt Grebe: »Kultur ist kulturelle Aneignung.«
Und im Fall des Kopfschmucks auch eine sehr spezifische Art der Meta-Aneignung, denn Grebe wollte sich nicht mit den falschen Federn eines Native-American-Häuptlings behängen – wenn er sich etwas aneignete, dann eher den urdeutschen Karl-May-Fetisch seines Vaters. Abgesetzt hat Grebe den I-Schmuck jetzt trotzdem erst mal, als man ihm gesagt hatte, dass niemand unter 30 aufs Konzert von einem Typen gehe, der sich als Häuptling verkleidet.
Wir stehen auf dem Schulhof vor seinem Gymnasium, zwei zweckmäßigen Nachkriegsquadern. »Mit Eintritt in diese Gebäude habe ich mich sehr angestrengt«, sagt der ehemalige Einser-Schüler, der Strichlisten führte, wie oft er sich meldete. Was womöglich auch damit zu tun hatte, dass seine Mutter an der Schule unterrichtete, Englisch und Französisch. War sie eine beliebte Lehrerin? »Dazu möchte ich mich nicht äußern.«
Grebe lehnt die Stirn an eine Scheibe, um in die Aula zu schauen, die in den Sommerferien döst. Als Abiturient trat er darin zu Karneval als Willy-Brandt-Imitator auf: »Das erste Mal, dass ein Saal gelacht hat. Das war schon schön. Droge.« Er blieb süchtig.
Danach fällt Grebe nicht mehr viel ein, was er zeigen könnte. Die Rollschuhdisco gibt's nicht mehr, auch die Chinchillafarm nicht, die ist mit schauerlichem Gestank abgebrannt. Vielleicht das Keramion, ein Keramikmuseum? »Frechen ist ja eine Töpferstadt.«
Sportreporterhafte Frage, da wir wieder ins Auto steigen und uns auf den Weg nach Köln machen: Wie war es denn nun für ihn, wie ist es, zurück nach Frechen zu kommen?
»Bis ungefähr mit 40 war da noch Abscheu, Antipathie, auch gegenüber meinen Eltern. Damals waren das noch Sparringspartner. Jetzt ist sowieso alles Krankheit und Tod. Jetzt ist auch Frechen einfach ein Nichtort.«
Im Industriegebietsniemandsland zwischen Frechen und Köln zeigt Grebe auf den McDrive von damals, dann auf einen dieser flughangargroßen Roller-Märkte und stellt eine seiner Grebe-Fragen, die vielleicht keiner außer ihm stellt: »Ja. Roller. Was ist Roller? Was ist das?«
Täuscht der Eindruck, oder wird Grebe in dem Moment einen Tick alberner, als wir am Autobahnkreuz Köln-West vorbeifahren, an jener Auffahrt, von der aus er, nachdem er Abitur und Zivildienst (Psychiatrie) gemacht hatte, aus Frechen wegtrampte? Parabelhafte Anekdote, die das ganze Elend des fehlenden Elends noch mal zusammenfasst: Als Grebe da stand mit seinem Berlin-Schild, kam lange niemand, um ihn mitzunehmen. Dann kam doch jemand, auf dem Fahrrad, der Vater, und brachte ihm das Geld für eine Bahnfahrkarte. Danach wechselten sie ein Jahr kein Wort.
Später im ICE nach Berlin hängt Grebe in ergonomisch bedenklicher Haltung über seinem MacBook und organisiert seinen großen Auftritt in der Berliner Waldbühne am 29. Juli vor, wenn es gut läuft, 10.000 Leuten. Nicht ganz so viele, aber doch mehrere Hundert sollen mit Grebe auf der Bühne stehen: der Musiker Alligatoah und die Künstlerin Anna Mateur, die Bläser der Sogenannten Anarchistischen Musikwirtschaft und die Singing Shrinks, ein Chor der Charité. An die Berliner Klinik mailt Grebe aus dem Zug in anderer Sache, er braucht seine MRT-Bilder für seinen neuen Arzt aus der Schweiz, der will sich das alles noch mal ansehen. »Alles ausprobieren«, sagt Grebe. »Und wenn's nur für 'ne Nummer ist, für'n Lied.«
Der todkranke Wolfgang Herrndorf schrieb über seine Wut auf Fans, die ihm zur Heilung seines Hirntumors Globuli und Weihrauchbäder empfahlen. Diese Wut teilt Grebe nicht. Dann schon eher Herrndorfs Arbeit und Struktur-Ethos, angesichts einer unheilbaren Krankheit weiterzumachen. Und klarsichtig sein Ende zu planen. »Dass er sich umgebracht hat und dass er die Pistole schon hatte – das sind Fantasien, die kommen automatisch. Sich das Leben zu nehmen; dass man aufhört, wenn es permanent so schlimm ist. Aber ich muss sagen, weil ich doch noch so vieles habe, was schön ist, will ich mich nicht umbringen. Ich spiele aber mit dem Gedanken, ja.«
Am nächsten Halt zieht ein Mann sein Rollköfferchen ins Bordbistro, schwarz gekleidet vom Hut bis zu den Sneakern. »Rainald!« Es ist der Komiker Torsten Sträter, den Grebe auch in die Waldbühne eingeladen hat, der sich aber entschuldigt, er müsse ein neues Programm schreiben. Er verspricht ein Absagevideo.
»Wie geht's sonst so gerade bei dir?«, fragt Sträter.
»Geht so. Gerade, an Pfingsten, habe ich wieder vier Schlaganfälle gehabt.«
Sträter berührt Grebes Unterarm. »Pass auf dich auf.«
Sie plaudern ein bisschen, Sträter fragt, woher Grebe komme, der sagt, dass er nach langer Zeit mal wieder einen Auftritt gehabt habe und dann bei seinen Eltern gewesen sei. »Wo denn?«, fragt Sträter. »Irgendwo da bei Köln.«