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Neunzig

FAS, 2020

Seit Wochen frage ich mich, wer Corona-Partys feiert, und ich bin jetzt einer Antwort endlich nähergekommen: meine Oma. Sie ist neunzig und lebt in einem Dorf im Allgäu. Diese Woche rief ich sie an, um ihr Apfelstrudelrezept zu bekommen, aber für Apfelstrudel ist ja anscheinend die ganz falsche Jahreszeit. Und sonst, Omi, wird es bei Euch wieder normaler, Lockerung der strengen bayerischen Ausgangsbeschränkungen und so? „Bei mir war immer alles normal“, sagte meine Oma. Sie besucht Verwandte wie immer, geht wie immer bei Bekannten für Tee und Kuchen vorbei. Beim Einkaufen zieht sie andeutungsweise einen Schal über die Nase. „Du wirst jetzt vielleicht lachen“, sagte meine Oma. „Aber der Hitler hat mich nicht einsperren können, da kann es der Söder auch nicht.“

Ich lachte nicht. Unterhaltsam fand ich die Vorstellung schon, wie meine neunzigjährige Oma in ihrem roten Polo über die Allgäuer Dörfer fuhr und mit irgendwelchen Lausgroßmutteraktionen die Schutzmaßnahmen unterlief, die speziell dafür gedacht waren, Alte wie sie vor Ansteckung zu schützen. Ich sah meine Oma vor mir im selbstgenähten Kostüm und mit blondierten Haaren – garantiert hatte sie eine Friseurin gefunden, die ihr weiter die Haare färbte, mich würde es nicht wundern, wäre sie momentan die einzig ordentlich frisierte Person im Ostallgäu. Ich sah meine Oma vor mir in dem alten Bauernhof, in dem sie lebte, wie sie auf dem Sonnenbalkon frühstückte und in die Berge schaute, hörte das Gebimmel der Kuhglocken, da war der Geruch der Gülle, und ich fragte mich, wie beschränkend Ausgangsbeschränkungen für jemanden wie sie waren.

„Ich bin neunzig, ich habe Narrenfreiheit“, sagte meine Oma. In meiner Berliner Einzimmerwohnung krachte etwas: ein Halswirbel. Mein Körper hatte seltsame Verrenkungen gemacht, weil ich nicken und gleichzeitig den Kopf schütteln wollte.

Am Anfang von Corona habe ich mir vorgenommen, meine Oma öfter anzurufen. Sie hatte gerade eine Operation hinter sich, konnte noch nicht ganz sicher laufen. In dem kleinen Dorf lebt sie etwas außerhalb, früher waren wir den Weg zu ihr im Winter manchmal wegen der Schneemassen nicht hochgekommen. Bald merkte ich, dass unsere Telefonate aber womöglich weniger sie ablenkten als mich. Wenn sie erzählte, was sie er- und überlebt hatte (Tieffliegerangriff, sieben Geburten, Tod meines Großvaters und anderer Familienmitglieder), und wenn sie sagte, dass sie nicht vorhabe, Corona in die Liste einzureihen, weil die Corona bloß ein Virus sei, dann entspannte sich in mir etwas. Wobei ich die Maßnahmen anders als sie nicht maßlos fand, sondern im Großen und Ganzen okay.

Der Widerstand wächst, sogenannte Hygiene- und Grundrechtedemos nehmen zu. Es überrascht mich nicht, dass sich Verschwörungstheoretiker, Impfgegnerinnen und Xavier Naidoo im Widerstand wähnen. Das taten sie vor Corona und werden sie unter allen Umständen weiterhin tun. Kein Wunder, falls Alleinerziehende, Kurzarbeitende und Alte im Heim, die nicht besucht werden dürfen, verzweifeln und für ein Ende der Einschränkungen protestieren. Aber meine Oma? Meine Oma, die für einen Spaziergang um einen Weiher nicht mal ihr Grundstück verlassen muss?

Kürzlich bin ich in eine Apotheke gegangen, um frische Masken zu kaufen. Ich war der einzige Kunde. Der Apotheker kam von hinten zum Schalter. Ich fragte nach Masken. Der Apotheker nahm seine Maske ab. „Ich kann Ihnen welche verkaufen, aber glauben Sie mir, der Schwachsinn hilft gar nichts. Ich habe das studiert. Hinter der Maske geht das Atmen viel schwerer. Wenn Sie da ein Coronapartikel einatmen, ziehen Sie es erst recht tief runter in die Lunge und werden richtig krank.“ Ich wich einen Schritt zurück. Der Apotheker war jetzt bei Bill Gates, Kinderlähmung durch Impfungen und der Straßenverkehrsordnung, die, ohne dass es jemand mitbekommen hätte, verschärft worden war. „Wir leben wieder im Faschismus. Aber auch das wird vorbeigehen.“

Ich kaufte keine Maske. Gehst du in eine Apotheke und wünschst dir, du wärst für seriöse Informationen auf YouTube geblieben.

Meine Oma überlegt, das erste Mal in ihrem Leben zu demonstrieren. Auch in Städten bei ihr finden Grundrechtedemos statt. Zum neunzigsten Geburtstag hat sie ein Schild bekommen, rot und dreieckig, ähnlich einem Verkehrsschild. Darauf sind zwei alte Leute mit Stöcken. Die symbolisierte Narrenfreiheit. Das würde sie gern hochhalten. Aber am Wochenende soll es im Allgäu regnen. Nässe und Kälte, das sei nichts in ihrem Alter, sagt meine Oma. Sie will ihre Gesundheit nicht gefährden.