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Macht euch breit!

FAS, 2018

Sitzen Männer breitbeinig, ist es normal. Sitzen Frauen breitbeinig, ist das eine Provokation. Was verrät das über die gesellschaftliche Position der Geschlechter?

Das mag jetzt vielleicht etwas überraschend kommen, in der Post-Weinstein/Spacey/Affleck/C.K./-Phase, jedenfalls war 2017 ein gutes Jahr für viele Frauen, für Frauen in Spanien zum Beispiel, zumindest für Frauen in Madrid, naja: für Frauen in Madrid, die Bus fahren. Denn der städtische Verkehrsbetrieb EMT hat im Sommer eines der größeren Alltagsärgernisse aus seinen Bussen verbannt. Ein kleiner Aufkleber zwischen „Nicht rauchen“ und „Kein Eis essen“ zeigt nun einen Mann, der allen anderen Männern im Bus zeigt, wie sie, por favor, nicht mehr sitzen mögen: breitbeinig.

In New York, in San Francisco und in Istanbul ermahnten die Verkehrsbetriebe ebenfalls mit Plakatkampagnen männliche Fahrgäste, ihre Beine nicht zu weit zu spreizen, wirklich nur einen Sitz einzunehmen und anderen Passagieren ebenfalls Beinbreitheit zu lassen, also: das sogenannte Manspreading bleibenzulassen. Das höfliche Japan kämpfte sogar schon in den siebziger Jahren gegen Manspreader, da war das Wort noch gar nicht erfunden.

Wobei mir auch nach intensivster Recherche nicht klar ist, wann Männerbeine als zu weit geöffnet gelten. Macht mich ein Öffnungswinkel von circa 30 Grad, das dürfte meiner bevorzugten Sitzposition entsprechen, zum Manspreader? Oder müsste ich die Beine doch weiter spreizen, sagen wir: sie im 45-Grad-Winkel (60 Grad? 90?) öffnen? Betreibe ich Manspreading, wenn ich in einem leeren Bus manspreade? Oder manspreade ich erst, wenn ich jemandem Platz wegnehme?

Eine Frage immerhin lässt sich ganz einfach beantworten: Warum manspreaden ich (vielleicht) und viele andere Männer (ganz sicher)? Dass es hauptsächlich Männer sind, lässt sich angesichts der täglichen Empirie leider kaum bezweifeln, selbst wenn man einen eher sportlichen Öffnungswinkel von 180 Grad zugrunde legt. Erklärung 1: Geschlechtsteile. Männer spreizen, weil sie ansonsten zwischen ihrer austrainierten Beinmuskulatur den Penis/Hoden/ein anderes Hautstück einklemmen würden. Ein Argument, das verwandt ist mit: Meiner braucht Platz, und zu warm darf er auch nicht sein, wegen Unfruchtbarkeit. Das bringen vor allem sogenannte echte Männer vor, die wissen müssten, dass echte Männer niemals ihre Beine trainieren.

Tatsächlich gibt es aber auch eine wissenschaftliche Version von „Männer brauchen halt mehr Platz“. In einer Studie errechneten Forscher (Männer), dass bei Männern die Schultern im Schnitt 28 Prozent breiter seien als die Hüfte (Frauen: drei Prozent), weshalb sie auch breiter sitzen müssten, um die Balance zu halten und nicht umzukippen. Rückenleidensexperten warnen zudem, dass bei engbeinig sitzenden, breitschultrigen Männern der untere Rücken verkrampfen könne.

Nach Erfahrungen aus einem Selbsttest (breite Schultern: check) kann ich den Experten durchaus zustimmen: Wenn ich die Beine sehr fest zusammenpresse, kontrahieren im Innenschenkel verkümmerte Muskelschnüre; es krampft bis weit den Rücken hinauf. In dieser Position würde ich in der Bahn garantiert nur einen Platz belegen, den aber womöglich sehr lange.

Was nervt an Erklärung 1: Sie ist vollkommen hirnrissig. Jedem Mann ohne anatomische Anomalität sollte es gelingen, eine angenehme Sitzposition einzunehmen, die ihn noch nicht des Manspreadings verdächtig macht.

Also Erklärung 2: Geschlechterrollen. Jungen und Mädchen durchlaufen eine „geschlechtsspezifische Körper- und Bewegungssozialisation“. Den Rest kann man sich eigentlich denken: Während Jungen lernen, „actionbereit“ und „wettbewerbsorientiert“ zu sein, werden Mädchen dazu seltener ermutigt, sodass sie auf die „potenzielle Bandbreite ihres Bewegungskönnens“ verzichten, wie es die Erziehungswissenschaftlerin Renate Zimmer ausdrückt. Jungen – immer willens, ihren verdienten Platz in der Welt einzunehmen, raumgreifend, auch in der U-Bahn. Mädchen – machen sich eher klein und halten sich zurück, fürchten, mehr Raum einzunehmen, als ihnen zusteht.

Was nervt an Erklärung 2:

a) Sie ist viel zu naheliegend und auch noch 2018 garantiert richtig.

b) Sie ist so richtig, dass sich absolut nichts gegen sie einwenden lässt: Jeder hat seine Rolle – ja ja, das ist wahr, so wahr, dass es auch Kevin Großkreutz gesagt haben könnte.

Also. Erstens: Männer könnten ihre Beine enger zusammenstellen, wenn sie wollten. Aber, zweitens, weil sie Männer sind, denken sie nicht daran. Erzählte ich anderen Männern von diesem Artikel, musste ich ihnen meist erklären, was Manspreading ist; Frauen sagte ich nur das Wort, und sie erzählten: Erst vorhin wieder in der Bahn. Ungefähr jeden Tag im Bus. Im Biergarten, im Hörsaal, in der Sauna. Oft sagten sie irgendwann auch: Ich spreade jetzt absichtlich zurück. Das ist der Unterschied. Männer machen die Beine breit, weil sie nicht darüber nachdenken – Frauen, weil sie darüber nachgedacht haben.

Ausnahmslos alle Frauen, die angaben, in einer Art Gegenangriff zurückzuspreaden (n=6), waren sich sicher, dass ihr Verhalten andere Frauen in Bus und Bahn mindestens so sehr irritiert wie die Männer. Es hat ja auch etwas Vulgäres, für mich zumindest, wenn eine Frau die Beine spreizt, bis der Reißverschluss ihrer Jeans spannt, bei Männern wirkt dieselbe Pose nur lächerlich.

Deshalb ein Vorschlag: Frauen, manspreadet! Nehmt euch endlich den Raum, der euch genauso wenig zusteht, drückt die Knie gegen die des Sitznachbarn, um eure Beine zwei Grad weiter spreizen zu können, freut euch über jeden vor Selbsterkenntnis angeekelten Blick in euren weit geöffneten Schritt, führt die ganzen jämmerlichen Machtkämpfchen, weil wir Männer nur so lernen werden, wie archaisch und lächerlich und damit bemitleidenswert niedlich unser Verhalten ist. Und es macht ja auch Spaß.

So ein gewonnener Stellungskrieg in der U-Bahn motiviert den ganzen langen Bürotag. Als ersten Schritt könntet ihr eure Taschen nicht mehr auf die Knie stellen, sondern dazwischen. Sucht euch einen Sport, der die Beine noch schneller zu O-Beinen deformiert als Fußball. Und dann übernehmt den Begriff „Manspreading“, eignet ihn euch an, bis er nicht mehr die Täter beschreibt, also Männer, sondern die Opfer eures expandierenden Manspreadings, also Männer, ernennt euch zu stolzen, breitbeinigen Manspreaderinnen und macht die Welt ein bisschen – weiblicher? Männlicher? Auf jeden Fall uneindeutiger.

Alternativ könnten sich natürlich auch alle normal hinsetzen, also anders normal.