Ja, meistens passiert nichts
FAS, 2018
Der Komponist Malakoff Kowalski füllt mit seinem Minimalismus Konzertsäle, denn er gibt, was jeder will: Sehnsucht. Jetzt auch am Klavier in der Elbphilharmonie
Gefühl ist wie Erfolg: Wer es hat, hat immer recht. Sinnlos, etwa Benjamin von Stuckrad-Barre zu sagen, dass Udo Lindenberg ein nuschelnder Mann mit Hut ist, weil ein paar Seiten „Panikherz“ beweisen, dass Stucki Udos Lieder fühlt. Seine Musik muss also irgendwas geben, das man selbst fühlen könnte. Manchmal passiert halt aber nichts.
Die Sonne schien noch und versilberte die Glaswellen der Elbphilharmonie, und drinnen, im Kleinen Saal, waren die Leute schön, manche sogar jung, und ganz sicher verschwammen die Köpfe der Zuhörer nicht zu einem Das-ist-ein-Klassikkonzert-Silbersee.
Es war ja auch kein Klassikkonzert, kein richtiges. Axel Prahl saß zwischen zwei jungen Menschen und sah mit seiner Frank-Walter-Steinmeier-Brille aus wie Frank-Walter Steinmeier. Farbenfrohe Desigual-Oberteile tupften den Saal mit seinen hässlichen Eierschalenwänden, getragen von sehr gesund wirkenden Frauen, die vermutlich von sich sagten, sie seien so alt, wie sie sich fühlen.
Dann ging das Licht aus, eine Tür in der Eierschalenwand auf, und ein feingliedriger Mann verbeugte sich im Scheinwerferkegel, die dünnen Arme angelegt, am Handgelenk ein silbernes Türsteher-Armband. Er trug eine schwarze Hose, ein weißes Hemd und eine rote Fliege, auf dem Kopf saß eine Prinz-Heinrich-Mütze. Er strich über die Tasten des schwarzen, glänzenden Bechstein-Flügels und legte los: Ein Mann allein an seinem Klavier, es sah mal wieder großartig aus.
Der Berliner Komponist Malakoff Kowalski, 39, wurde als Sohn iranischer Eltern in Boston geboren, wuchs in Hamburg auf, machte Anfang der nuller Jahre ein bisschen Hip-Hop, dann Krautrock, er schrieb Musik für Film und Theater und wurde mit dem instrumentalen Sehnsuchtsalbum „Kill Your Babies“ 2012 zum Liebling des Feuilletons. Für die nächste Platte „I Love You“ schrieb ihm die Schriftstellerin Helene Hegemann den Begleittext, und Kowalski hatte mit „How I Think of You“ – einer Ballade, die klang, als erinnere er sich unter einer Straßenlaterne an eine Frau, die nicht mehr ist – einen Mini-Hit. Nun also „My First Piano“, ein Mann und sein Klavier, ein Genre so klein und anachronistisch, dass ein paar Namen reichen, um es zu umreißen: in Frankreich vielleicht Yann Tiersen, in Deutschland Nils Frahm und, jazziger, Chilly Gonzalez. Neoklassik, jazzige Klassik, so etwas. Und eben, als unbekanntere, hippere Version, Malakoff Kowalski.
„My First Piano“ wurde oft als Meditationsalbum beschrieben; „Yoga für die Ohren“ und „Musik zum Tee“ sind Ausdrücke aus Rezensionen. Und wirklich: Als Kowalski in der Elbphilharmonie anfängt, passiert erst mal – nichts. Wie bei einer Gruppenmeditation interessieren das Husten und Räuspern der anderen Personen im Raum plötzlich enorm. Gähnt da schon einer? Muss etwa jemand niesen? Und zischt da ernsthaft, oder ironisch, der Deckel einer Flasche? Für die Menschenmassenmusik bilden Kowalski und sein Klavier-Geklimper einen angenehmen Hintergrund.
Erst, nachdem man im Kopf ein paar Mails beantwortet hat und die Einkäufe erledigt, tritt irgendwann ein anderer Meditationseffekt ein: die Konzentration aufs Fastnichts. Die Kompositionen von „My First Piano“ ähneln einander so sehr wie Anschläge unterschiedlich großer Klangschalen. Sie haben Wärme, Dunkelheit und Sehnsucht und alle dasselbe Tempo, nämlich gar keins. Kowalskis Finger bleiben auf der linken Seite der Klaviatur, bei den tiefen Tönen, die den Stücken Drama geben. Ein Oldtimer auf einer Allee, der fliegende Rock eines sich drehenden Mädchens im Kaffeehaus, der Blick in den Schneehimmel über einer Großstadt und kurz der Gedanke, einfach mit dem Aufzug nach oben zu fahren – das sind die Bilder, die Kowalski beim Zuhören erschafft, als langsame, verrauschte Schwarzweißaufnahmen.
Irgendwann springt er auf und erzählt, wie er zu „My First Piano“ kam. Ein Foto hatte Kowalski gefunden, von sich als Einjährigem im Strampelanzug am Klavier – dem Wurlitzer-Klavier seiner Mutter, einer Pianistin, die ihm darauf Bach vorspielte, Brahms und Schubert. Das Foto weckte in Kowalski so viele Erinnerungen, dass er sich auf die Suche nach dem Klavier machte, es bei Freunden seiner Eltern fand und zu sich nach Berlin holte. Ein passendes Instrument zu finden, das sei, wie einen passenden Menschen zu finden, sagt Kowalski: „Da gehört sehr viel Glück dazu, und meistens passiert auch nichts.“
Ja, meistens passiert nichts. Ein paar eigene Kindheitserinnerungen steigen in den eineinhalb Stunden auf (wie klebten immer die Hundeleckerli in den Taschen von Papas Lederjacke), oft aber sitzt man einfach da und denkt: Und?
Vielleicht geht es den drei, vier Leuten, die während des Konzerts den Saal verlassen, genauso – wenige im Vergleich zu den vielen, die am Ende laut und lang applaudieren werden.
Der Ergriffenheitszwang eines Konzertsaals steht dem Geklapper und Geplapper einer Bar entgegen, in der man sich freut, wenn ein Pianist einem zwischen zwei Schlucken ein Bild in den Kopf spielt, aber man nicht selbst versucht, Erinnerungen herbeizuholen. Womöglich liegt es auch an Kowalskis Pathos. Von seinem Schwarzweiß-Outfit über die Geschichte, wie er früher in Hamburg nachts durch den Hafen spazierte, nichts als ein Lied auf den Lippen, zu den Titeln der Stücke – „Dimanche soir“, „65 East India Row“ – und den Stücken selbst, die weich und verschwommen wie durch eine Watteschicht aus der Vergangenheit herüberwehen: Es ist dieses Sehnsuchts-Zuviel, das entweder begeistert oder nervt, und ob es begeistert oder nervt, kann man sich mit der Frage beantworten: Will man, dass auf der eigenen Beerdigung ein Stehgeiger spielt?
Es gibt dann noch einen Moment, in dem man sich in Kowalski verlieben könnte: Am Ende, als Zugabe, singt er a capella „How I Think of You“. Die Schwere des Klaviers ist weg, und er steht da vorn, allein im Bühnenlicht, und singt diesen endsehnsüchtigen Song mit einer Leichtigkeit, dass man ihn noch viel später vor sich hin summen wird, wenn man allein durch die Sommernacht läuft.