Reportagen Porträts Kolumnen Interviews Features Essays Rezensionen Tel. +49 (0) 157 – 380 83 789

Die Rettungsstelle

DIE ZEIT, 2024

Mädchen, die nicht mehr essen mögen oder sich selbst verletzen. Jungen, denen Stimmen raten, sich umzubringen. Wer kann ihnen helfen? Zu Besuch in einer Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie in Potsdam

Kurz vor halb sieben am Morgen, Schichtwechsel auf der psychiatrischen Jugendstation des Klinikums Ernst von Bergmann in Potsdam. Im schlauchförmigen Dienstzimmer verdrängt der Geruch von Kaffee und Duschgel das Abgestandene der Nacht. Die Pflegedienstleiterin Angela Herbst sitzt am Laptop und schreibt mit, was eine Kollegin aus der Nachtschicht ihr in knappen Worten über die Patienten berichtet, die in den Zimmern entlang des Stationsflurs schlafen.

Pauline*, 17, hat in drei Tagen 100 Gramm zugenommen. So viel soll sie an einem Tag schaffen.

Alina, 18, und Miriam, 15, haben in ihrem Zimmer »Wahrheit oder Pflicht« gespielt und gekuschelt, Miriam musste deshalb ins Überwachungszimmer umziehen, das als einziges noch frei war.

Jana, 16, ist beim Einkaufen weggelaufen und wurde am Spirituosenregal wiedergefunden.

Finn, 17, kommt erst am Mittag wieder auf die Station, er ist auf der Beerdigung seines Großvaters und will dort eine Rede halten.

»O Gott«, murmelt Herbst, während sie tippt.

In Stressmomenten hat Finn Panikattacken, deswegen ist er in die Klinik gekommen, und weil er Stimmen hört von Monstern, die ihm einreden, er solle sich umbringen. Letzte Woche ist er bei einem Ausflug auf die Straßenbahngleise gelaufen.
Großes Gesprächsthema sei das erste Mal, beendet Herbsts Kollegin ihren Bericht.

»Wir hatten zu lange keinen Jungen auf Station«, sagt Herbst. »Seit Finn da ist, haben alle Mädchen angeklebte Wimpern.«
Sie stellt ihre Tasse ab, auf der »Chefin« steht, und klemmt sich einen Pieper an den Jeansbund, unter ihr Leopardenprint-Shirt. An der Wand schauen Pflegerinnen von sonnenhellen Hochzeitsfotos, halb verdeckt von Sprüchekarten (»Fehlt nur noch das Zelt, dann wäre der Zirkus hier komplett«). An einer Magnetschiene haften durchnummeriert sechs Scheren und fünf Messer. Wenn Patienten sie ausleihen, zum Basteln zum Beispiel, sieht das Pflegeteam auf einen Blick, wie viele Gegenstände ausgegeben sind, mit denen sich jemand verletzen könnte.

Angela Herbst schiebt die Lamellen der Jalousie über dem Schreibtisch auseinander und späht durch eine Scheibe ins Überwachungszimmer: ein Raum, gedacht für Jugendliche, die akut suizidgefährdet oder wegen ihrer Magersucht so dünn sind, dass ihr Kreislauf jederzeit aussetzen kann. Von ihrem Büro aus können die Pflegerinnen sie rund um die Uhr beobachten. Jetzt prüft Herbst aber nur, ob Miriam pünktlich aufsteht, um ihren Weckdienst anzutreten.

Ein paar Sekunden später klopft es, im Türrahmen erscheint Miriams blau gefärbter Strubbelkopf. »Frau Herbst, Sie haben gedacht, ich schaff’s nicht. Ich habe Sie gesehen.«

»Guten Morgen, Miriam.« Sie bekommt ein Lob fürs rechtzeitige Aufstehen und zieht los, die anderen wecken. Nach und nach schlurfen zerknautschte Teenies in Jogginghosen am Dienstzimmer vorbei zum Essensraum.

»Guten Morgen, Jana.«

»Morgen.«

»Guten Morgen, Lilly.«

Keine Antwort.

Lilly, ein fahles Mädchen, läuft etwas tapsig über den Flur, so als habe sie sich noch nicht an ihren hochgeschossenen Körper gewöhnt.

»Ihr habt gesehen, dass Lilly eine Kordel in der Hose hat?«, fragt Herbst ihre Kolleginnen. In einem Eck des Dienstzimmers steht ein Paar Doc-Martens-Plateaustiefel, Lilly hat es abgegeben. Sie wollte keine Schuhe mehr mit Schnürsenkeln in der Nähe haben, seitdem sie versucht hat, sich zu strangulieren.

»Wir sollten sie im Auge behalten«, sagt Herbst, bevor sie und ihre Kolleginnen zum Frühstück mit den Patientinnen gehen.

Vergangene Woche warnte eine Expertenkommission des Fachmagazins Lancet Psychiatry vor einer »globalen psychischen Gesundheitskrise Heranwachsender«. Während der Pandemie haben die psychischen Probleme unter Kindern und Jugendlichen zugenommen. In Deutschland waren besonders Teenager betroffen, ganz besonders die weiblichen. 2022 lag die Zahl der 15- bis 17-jährigen Mädchen mit einer Angst- oder einer Essstörung jeweils ungefähr 50 Prozent höher als vor der Pandemie. Psychische Störungen sind heute in Deutschland nach körperlichen Verletzungen und Vergiftungen der zweithäufigste Grund, weshalb 10- bis 17-Jährige in Krankenhäusern aufgenommen werden.

Es ist eine Entwicklung, die Talkshow-Diskussionen hervorbringt und die Verkaufstische der Buchhandlungen füllt, auf denen Titel wie »Generation lebensunfähig« und »Generation Angst« liegen. Von einer überbehüteten Jugend, die keiner Krise mehr standhält, ist da die Rede, von Smartphones und sozialen Medien, die junge Menschen vom echten Leben entfremden. Psychologische Fachartikel halten dagegen, dass die Ursachensuche dann doch etwas schwieriger sei. So sei zum Beispiel gut möglich, dass nicht etwa das Nutzen sozialer Medien krank mache, sondern dass depressive Jugendliche einfach öfter online seien. Die eine, allumfassende Erklärung – es gibt sie nicht.

Was es aber gibt, überall in Deutschland, sind diese Listen mit den Namen von Kindern und Jugendlichen. Sie warten darauf, in einem Krankenhaus aufgenommen zu werden. In der Kinder- und Jugendpsychiatrie in Potsdam mit ihren 42 Plätzen hat sich die Liste während der Pandemie auf 300 Patienten verlängert und ist danach nicht kürzer geworden.

Um in Potsdam und in anderen Kliniken einen Platz zu bekommen, reicht es meist nicht aus, depressiv oder ängstlich zu sein. Oft genügt es nicht einmal, auf die Frage, ob Suizidgefahr besteht, mit Ja zu antworten. Das Klinikpersonal ist gezwungen, genauer abzuschätzen, wie sicher es ist, dass ein Jugendlicher sich wirklich etwas antut, und fragt nach prozentualer Wahrscheinlichkeit. Eine »latente Suizidalität« haben auch Kinder auf der Warteliste. Sofort aufgenommen wird, wer konkrete Pläne hat. Andere warten oft ein Jahr oder länger.

Der Neubau-Quader der Kinder- und Jugendpsychiatrie steht auf dem Klinikcampus mitten in Potsdam. Betritt man das Gebäude, denkt man, man sei in einem Hostel, nicht in einem Krankenhaus. Eine Lobby mit offener Küche und Tischtennisplatte. Ein Wandbild verkündet die UN-Kinderrechte. Ein Kaktus wächst vor bodentiefen Fenstern aus einer mülleimergroßen Konservendose. Hier kochen und chillen die Patienten der drei altersgestaffelten Stationen, die Jüngsten sind fünf, die Ältesten 18. Dann gibt es noch eine Akutstation, sie hat eine eigene Dachterrasse mit meterhohen Glaswänden.

Ein Rundgang über die Stationsflure auf den verschiedenen Etagen. Getrocknete Boxershorts sind auf dem Wäscheständer erstarrt, auf mehr oder weniger gemachten Betten liegen Fotokissen. Teenager-Alltag. Aber an der Aufzugtür steht ein Rollstuhl, und in einer dunklen Ecke daneben lehnt eine eigenartige Matratze, mit Schlaufen und Haltegriffen – ach so, dafür ist die da: um jemanden darauf festzuschnallen und wegzutragen.

»Wer will zuerst seine Meds?«, fragt Angela Herbst aus dem Dienstzimmer. Nach dem Frühstück reihen sich die Bewohnerinnen der Jugendstation hier auf, jede hält einen farbigen Plastikbecher in der Hand. Am Ende des Flurs verschrumpeln eine aufgeblasene 1 und eine 7 unter der Decke, Geburtstagsdeko für eine Patientin.

»Einmal Sonnenschein«, sagt Herbst und gibt Larissa, 16, ihre Tabletten.

Ein Mädchen nach dem anderen nennt erst seinen eigenen Namen und dann den seiner Medikamente: Fluoxetin, Sertralin (zwei Antidepressiva), Olanzapin (hilft gegen Psychosen, aber auch beim Zunehmen). Nötig wäre dieses Ritual nicht, Herbst überprüft am Laptop, wer was einnehmen muss. Aber es soll die Patientinnen daran erinnern, dass sie sich selbst für die Medikamente entschieden haben. Zwangsmedikation ist die Ausnahme, ein Richter muss sie anordnen; das kann zum Beispiel bei einem Psychotiker geschehen, der im Wahn zu wissen glaubt, die Pillen würden ihn vergiften. So selbstbestimmt, dass nicht kontrolliert würde, ob sie die Tabletten nehmen, sind die Patientinnen aber auch nicht. Nachdem sie alles geschluckt haben, öffnen sie zum Beweis den Mund.

Danach gehen die Mädchen auf ihre Zimmer und machen sich für die Schule fertig, morgens haben sie Unterricht im Klassenraum auf dem Gang. Neben Lehrern arbeiten in der Klinik auch: Kinderpsychiaterinnen, die Medikamente dosieren, Psychotherapeuten für Einzeltherapien und die Angestellten des Pflege- und Erziehungsdiensts, PEDs genannt. Rund um die Uhr sind sie da, ermutigen, trösten, verbieten, zwangsernähren, und notfalls gehen sie auch mit aufs Klo. Es gibt Sozialarbeiterinnen, die Plätze in betreuten Wohngruppen suchen, wenn Patienten nicht in ihre Familie zurückwollen oder keine Familie haben. Es gibt Kunsttherapeuten, eine Musiktherapeutin, einen Sporttherapeuten und eine Bibliotherapeutin, die zum Lesen von Büchern und Schreiben von eigenen Texten anregt.

Heute haben die Jugendlichen nach der Schule Kunsttherapie im Klinikgarten, einem grünen Viereck zwischen den Krankenhausgebäuden mit einer Wiese und verwilderten Beeten, auf herumstehende Bretterwände sind Graffiti gesprüht. Alina, Miriam, Jana, Lilly und Finn sitzen auf Baumstümpfen, Kladden auf den Knien, und malen mit Wasserfarben das Meer.
Oder viele unterschiedliche Meere. Lillys Meer ist weit und kräuselig, sogar die Vögelchen darüber haben winzige Details. Finns Meer ist eine durchgängige blaue Fläche, davor ein Kitesurfer. Finn ist von der Beerdigung zurück und gut drauf, weil er seine Rede hinbekommen hat.

Überhaupt aufgedrehte Stimmung, wohl auch wegen der Anwesenheit eines Reporters.

»Waren Sie schon mal in der Klapse?«, will Alina wissen.

»Das finde ich nicht so passend«, interveniert der Kunsttherapeut, ein Mann Ende fünfzig mit Schiebermütze und Wanderschuhen.

»Heute Nacht habe ich geträumt, dass ich mich umbringe, Herr Kinkel«, sagt Alina.

»Mhm.«

Darf man was fragen?

»Fragen Sie, wir können ja nicht weglaufen«, sagt Miriam.

Was fehlt euch am meisten?

Alina: »Sex.«

Jana: »Mein Handy.« Das ist in einem Fach im Dienstzimmer eingesperrt, ihre Smartphones dürfen die Patienten nur unter Aufsicht oder während der Besuchszeiten benutzen.

Finn: »Meine Freundin.«

Alina: »Oooooh. Süß.«

»Hör doch mal auf, alles zu kommentieren«, ermahnt Herr Kinkel.

Alina: »Oh my god, hab ich dich verletzt?«

Lilly sagt nichts, die Zungenspitze im Mundwinkel, sitzt sie im Klinikrollstuhl über ihr Meer gebeugt und tupft das weiße Segel eines Bötchens auf die Wellen. Ihre Unterarme sind gestreift von hellen Narbenlinien. Sie soll so wenige Kalorien wie möglich verbrennen, darum der Rollstuhl.

Eine noch dünnere »Esspatientin« durfte nicht mit raus. Es ist der Begriff, den das Personal benutzt, nie sagen sie »Anorektikerinnen« oder gar »Magersüchtige«. Pauline hat an diesem Vormittag Liegezeit mit Zwischenmahlzeiten, jede Scheibe Brot und jeder Apfelschnitz zählt.

Wie die anderen hier so reden, ist es schwer zu glauben, dass mehrere von ihnen einen oder mehrere Suizidversuche hinter sich haben: Lilly, Finn und Alina. Draußen spräche es für eine normale Entwicklung, dass sie sich für Themen wie Sex, Handy und Freundin interessieren, drinnen gehört zur Heilung, zu ihrer »Normalisierung«, ihnen all das erst mal wegzunehmen.

Körperlichkeit ist in der Klinik nur keusch erlaubt. Die Patienten dürfen romantische Beziehungen im Haus nicht ausleben, so steht es in den »Wohlfühlregeln« der Klinik, eigentlich sollen sie sich gar nicht erst verlieben. Das könnte sie von ihrer Therapie ablenken und ihren Problemen, die sie angehen wollen.

Handys sind schon wegen des Datenschutzes verboten, es wäre nur kurz lustig, wenn ein Patient ein Foto von Mitpatienten posten würde, #psychos2024, ich war dabei. Es kam schon vor, dass sich Jugendliche bei der Aufnahme weigerten, das Smartphone abzugeben, und auf den Klinikplatz verzichteten.

Eine Jugendpsychiatrie ist ein eigentümlicher Zwischenort. Sie ist ein Zuhause auf Zeit, ein Erziehungsheim für Schwererziehbare, eine Rettungsstelle für Lebensmüde, eine Ersatzfamilie. Eine Anstalt, die Menschen heilen soll – und sie kontrolliert. Schlafenszeiten, Essenszeiten, Weck- und Küchendienste sollen den Patienten eine Alltagsstruktur geben, die sie oft von zu Hause nicht kennen. Eine Patientin nennt die Klinik in Potsdam einen Ort der »Sicherheit vor sich selbst«, für eine andere symbolisiert er ihre eigene »Machtlosigkeit«.

Die meisten hier haben Heftiges erlebt. Da sind Söhne von Schlägervätern, Töchter alkoholabhängiger Mütter. Kinder, die in mehreren Pflegefamilien nacheinander waren. Viele stammen aus prekären Verhältnissen, aber längst nicht alle. Ein Junge erzählt beim Frühstück, eher peinlich berührt, dass sein Vater sich einen Adelstitel gekauft hat. Psychisch erkranken kann jeder, allerdings kommt es bei Kindern und Jugendlichen aus ärmeren Familien häufiger vor.

Zwei typische Fälle sehen sie hier oft, sagt die Oberärztin Lena Kuntze: erstens den Jungen, der seine Aggressionen nach außen trägt, und zweitens das magersüchtige Mädchen, das den eigenen Körper, sich selbst, zum Verschwinden bringt. Das Wort »sehen« ist hier treffend, denn der psychiatrische Blick hat sich verändert. Vor 100 oder auch noch vor 25 Jahren hätte er bei Patienten mit denselben Symptomen womöglich andere Störungen wahrgenommen: Am Anfang des 20. Jahrhunderts hatte die Hysterikerin in der Psychiatrie Hochkonjunktur, am Ende des 20. Jahrhunderts der autistische Junge. Psychiatrische Diagnosen sind immer auch Zeitdiagnosen.

»Die Kinder kommen viel kränker zu uns als früher«, sagt die Oberärztin Kuntze. Viele mit einer »wahnsinnigen Hoffnungslosigkeit«.

Luca ist 17, sie war ein ganzes Jahr lang in der Klinik in Potsdam. Einen Monat nach ihrer Entlassung sitzen sie und ihre Mutter vor ihren Bildschirmen, Luca in München, die Mutter zu Hause in Brandenburg. Sie wollen von Lucas Krankheit erzählen.

»Mein großes Ziel war, dass ich einfach nicht mehr aufwache. Das Gehirn ist beeinträchtigt, wenn man unterernährt ist. Es sagen einem alle: Wenn du mehr isst, wird es dir besser gehen. Für mich klang das absurd. Oft habe ich mir die Magensonde aus der Nase gezogen, wenn sie mir eingeführt wurde, sodass sie die neu legen mussten.«

Luca sagt, ihre Ansprüche an sich selbst seien immer hoch gewesen, schon früh habe sie sich in der Schule viel Druck gemacht. Dann, in der neunten Klasse, bekam sie Panikattacken. Es war die Zeit der Pandemie, die Zeit des Homeschoolings, und Luca ständig online. »Instagram und TikTok waren schlimm. Der Algorithmus verstärkt das Unwohlsein im eigenen Körper. Man guckt ein Video über Ernährung und kriegt nur noch ›What I eat in a day‹ vorgeschlagen. Oder: Von der zu der Figur schaffst du es, wenn du das und das machst.«

Als 1,79 Meter große 16-Jährige wog Luca nur noch 50 Kilo.

»Gefühlt hat meine Mutter alle Kliniken in Deutschland angeschrieben, weil es so wenige Plätze gibt.« In Halle bekam Luca einen Platz, doch nach zwei Tagen ließ sie sich wieder abholen. Bei Panikattacken, erzählt sie, habe man ihr dort gesagt, sie solle nicht so ein Drama machen. Ihr Gewicht sank auf 45 Kilogramm. Lebensbedrohlich. Luca war jetzt ein Akutfall, der sofort aufgenommen werden musste. In Potsdam gab man ihr das Überwachungszimmer und einen Essensplan.

»Wenn ich nicht aufgegessen habe, musste ich dieses Fortimel trinken – hochkalorische Flüssignahrung, 200 Milliliter mit 300 Kalorien. Um es auszugleichen, habe ich mich übergeben.« Luca durfte nicht mehr allein ins Bad gehen. »Dann kam der Tag, an dem ich die Nahrung ganz verweigert habe und sie angefangen haben zu sondieren. Einmal habe ich es freiwillig gemacht. Freiwillig klingt doof ... ohne Widerstand. Und dann – willst du das erzählen, Mama?«

»Du hast dich gegen die Sondierung gewehrt«, sagt Lucas Mutter. Sie habe unterschrieben, dass ihre Tochter zwangsernährt und dafür fixiert werden darf. Zwei Wochen lang bekam Luca dreimal am Tag einen Schlauch in die Nase geschoben und Flüssignahrung in den Magen gepumpt. Jeder habe da seine Aufgabe, sagt sie über die Pflegerinnen und Pfleger. »Jemand hält meine Beine fest, einer die Arme, eine Person ist am Kopf und redet auf mich ein wie auf ein Kind.«
Später habe ihr eine Pflegerin erzählt, dass sie es nicht gepackt habe, einer Jugendlichen, die sterben will, sagen zu müssen: Alles wird gut. Die Pflegerin habe die Aufgabe am Kopf dann nicht mehr übernommen.

Schließlich merkte Luca, dass der Widerstand nichts bringt, dass sie zunahm, egal, was sie tat. Sie begann wieder zu essen, wenn auch nur wenig. Im ersten halben Jahr in der Klinik kam sie kaum über 50 Kilo. Der Kuchen für ihren 17. Geburtstag wurde in den Essensplan integriert. Und Luca erhielt eine neue Diagnose: emotional instabile Persönlichkeitsstörung vom Borderline-Typus.

»Das war so ein Schock«, sagt sie. Zu den typischen Symptomen zählen heftige Wechsel der Gefühle und des Selbstbildes und unkontrollierbare Aggressionen, oft gegen sich selbst. Luca ließ sich überreden, eine spezielle Borderline-Therapie zu versuchen. Im Mittelpunkt stand die Gefühlsregulation. Luca lernte, ihr Anspannungsniveau zu erspüren – und Techniken, um es gezielt zu verringern, wie Sport treiben, eiskalt duschen oder in eine Chili beißen.

»In einem Monat habe ich dann viel mehr geschafft als im halben Jahr davor. Bei mir hat es klick gemacht, dass die Essstörung mit Borderline gekoppelt ist. Dass ich bei Kritik denke, keiner mag mich, und wenn die doof zu mir waren, bin ich auch doof zu denen und übergeb mich. Die Diagnose war das Go: Jetzt kann es besser werden.«

Mithilfe ihrer Therapeutin fand sie eine Borderline-Therapie-WG in München. In der Klinik hat Luca die zehnte Klasse nachgeholt, jetzt will sie Abitur machen. »In Potsdam haben alle gesagt: Du musst uns schreiben, wie es dir in München geht. Gerade habe ich einen langen Brief verfasst.«

Auf der Jugendstation, wo Luca ein Jahr verbracht hat, kommt jetzt eine Kollegin von der Akutstation vorbei und erzählt von ihrer letzten Schicht. Pieperalarm. Aus dem ganzen Haus kamen die Ärztinnen und Pfleger angerannt. Ausgelöst hatte den Alarm mal wieder Kira, die um sich schlug und fixiert werden musste. Ein Fußtritt schleuderte eine Pflegerin an die Wand. »Jede Woche sorgt diese Patientin für einen Dienstausfall«, klagt die Akutpflegerin genervt.

Kira ist 13 Jahre alt und hat schon in fünf Pflegefamilien gelebt. Sobald man sie allein lässt, wird sie aggressiv, verletzt sich und andere, die sie beruhigen wollen. Am Schrank im Dienstzimmer hängt eine ausgedruckte Mail des Chefarztes, der seinem Team dafür dankt, dass es sich so für diese »schwer geplagte Patientin« einsetzt, und daran erinnert, dass Kira nach Angriffen die Chance bekommen müsse, um Entschuldigung zu bitten: »Bei vorher erfolgter Fremdschädigung Anleitung und Planung von Wiedergutmachungshandlungen«. Daneben hängt eine laminierte DIN-A4-Seite, auf der steht: »Unsere Patient*innen sind ...

kraftvoll

zuversichtlich

mutig

großartig

einzigartig

schwungvoll

empathisch«.

Die Ansammlung dieser Adjektive lässt sich als Appell verstehen, die Kinder und Jugendlichen als kostbare und liebenswerte Menschen zu sehen – ob sie Fortschritte machen oder nicht. Schon aus Selbstschutz müssen die Mitarbeiter die Patienten aber auch als klinische Fälle betrachten. Sonst müssten sie wirklich alles für sie tun und könnten gar nicht mehr heimgehen, wo oft die eigenen Kinder warten.

»Vor 200, 300 Jahren hätte eine Dorfgemeinschaft eine Patientin wie Kira in einen Käfig gesteckt«, sagt ein Oberarzt in der Mittagspause. »Um ehrlich zu sein, hätte ich Verständnis dafür.«

Es ist ein Satz, der so gar nicht zu den humanistischen Idealen passt, von denen der Chefarzt und viele andere aus dem Klinikteam immer wieder reden. Aber auch ein Satz, der von Spannungen zwischen Fürsorge und Frust zeugt, die sich nicht auflösen lassen.

Um sie auszuhalten, braucht es Strategien. Unter den Pflegekräften ist ein dunkler Humor verbreitet, weiter oben in der Hierarchie lässt ein distanziert-technischer Jargon alle Drastik fast verschwinden. Dann ist davon die Rede, »körperlich einzugrenzen«, wenn eine um sich schlagende Patientin festgehalten, auf den Boden gedrückt oder auf der Matratze fixiert wird.

Zur Mittagsrunde versammeln sich Therapeutinnen, Pfleger, Ärztinnen und Sozialarbeiterinnen in der Bibliothek, um einander zu berichten, was auf ihrer Station in den vergangenen 24 Stunden passiert ist. Diese Fast-Vollversammlung – ein paar Kollegen müssen auf den Stationen bleiben – dient dazu, dass alle alles mitbekommen und gegenüber den Patienten mit einer Stimme sprechen. Die Kolleginnen und Kollegen sitzen in Lesesesseln, lehnen an Regalen voller bunter Jugendbücher. In vielen dieser Bücher haben die Helden psychische Probleme.

»Jade?«, ruft der Chefarzt die Kinderstation auf. Alle Stationen heißen nach Edelsteinen, wie Edelsteine sollen sich auch ihre Bewohner fühlen.

Die Oberärztin Kuntze berichtet von einer neuen Patientin, ihre Mutter hat sie hergebracht. Im Aufnahmegespräch gab das Mädchen an, falls es nicht bleiben könne, liege das Risiko, dass es sich etwas antue, bei 85 Prozent.

»Rubin?«, fragt der Chefarzt.

»Gleich drei Neuvorstellungen«, sagt Kuntze, die auch die Jugendstation leitet. Ein 15-jähriger Transjunge, auch er suizidal. Ein Mädchen, das eine Woche zuvor schon da war, hat sich nach ein paar Minuten Gespräch wieder gegen eine Aufnahme entschieden. Dann wurde noch eine 14-Jährige von der Polizei hergebracht, weil sie nach einem Familienstreit weggelaufen war und den Beamten sagte: Wenn ich heim muss, bringe ich mich um. In der Klinik erzählte sie von ihrer Vergewaltigung vor einem Jahr. Die Familie einer Freundin hat sie abgeholt und zu sich genommen, mal schauen, wann ein Klinikplatz frei wird.

»Wir haben uns gefragt, ob es einen prominenten Suizid im Internet gab, weil so viele im selben Alter in so kurzer Zeit gekommen sind«, sagt Kuntze. »Wir haben nachts noch gegoogelt, aber nichts gefunden.«

Kopfschütteln, niemand hat vom Suizid eines Influencers gehört.

»Opal?«, fragt der Chefarzt.

»Nichts Besonderes«, antwortet der Oberarzt der Akutstation.

Keine 24 Stunden nachdem Kira die Pieper der Klinikmitarbeiter anspringen ließ, worauf die von überall ankamen, um sie »körperlich einzugrenzen«, legt sie einer Pflegerin der Akutstation einen Verband an. Fast andächtig wickelt Kira Mullschichten um den Unterarm der Frau.

»Super«, lobt die Pflegerin.

»Ich bin schon oft Rettungswagen gefahren«, sagt Kira, sichtbar stolz. Einer dieser Wagen brachte sie hierher.

»Was ist passiert?« In der Tür zum Aufenthaltsraum steht Lou, 15, die Manga-Comics liebt und deren wichtigstes Therapieziel es ist, sich nicht selbst zu verletzen.

»Kira möchte Sanitäterin werden und übt schon mal.« Lou verzieht sich ins am weitesten entfernte Eck aufs Sofa zu Lennon, 16, der einen kleinen Elefanten häkelt. Oder ein Lama, er weiß es selber noch nicht genau. Auch am Nachmittag trägt Lennon eine locker sitzende Pyjamahose, ohne Kordel im Saum.

Die Pflegerin liest Kira von einem Tablet vor, was die beiden zum Beruf Rettungssanitäter ergoogelt haben – Gehalt, Jobbeschreibung, Ausbildung. So als säßen sie und Kira zu Hause auf dem Sofa. So als sei Kira keine Patientin auf der Akutstation, sondern eine Schülerin, die sich über mögliche Berufe informiert. So als hätte Kira eine Mutter, die sich für so etwas interessiert. Als sei diese Eins-zu-eins-Betreuung zwischen Pflegerin und Patientin keine Belohnung dafür, dass Kira es heute geschafft hat, sich in ihrem Zimmer 15 Minuten lang allein zu beschäftigen.

Die beiden lesen, was man in der Sanitäterausbildung lernt, es geht um Herzinfarkt und Herzdruckmassage.

»Was ist ein Herzinfarkt?«, fragt Kira.

»Um unser Herz sind ja Gefäße, die Herzkranzgefäße.« Die Pflegerin ballt eine pumpende Faust. »Die können verschließen, dann bekommt das Herz kein Blut mehr.«

»Was passiert dann?«

»Im schlimmsten Fall kann man sterben. Deshalb musst du als Sanitäterin ganz schnell sein.«

Kira scheint zu überlegen. Dann breitet sich ein Lächeln auf ihrem Gesicht aus: »Ich bin schnell! In meiner Wohngruppe habe ich Flitzefuchs geheißen!«

Später spielt Kira auf der Dachterrasse im warmen Nachmittagslicht mit einem Pfleger Tischtennis. Jede Pflegerin, die drinnen am Fenster vorbeigeht, muss ihr einen Daumen zeigen, das Zeichen für Kira: Sie haben sie gesehen. Draußen hebt dann auch Kira einen Daumen, alles okay.

In seinem Eckbüro im zweiten Stock der Klinik hat Anis Towfigh einen Süßigkeitenspender stehen, die Snacks darin heißen Eros Mandelzotti. Er hat auch einen ferngesteuerten James-Bond-Wagen im Regal, der ihn daran erinnern soll, wie er als Kind war, und einen kleinen gehäkelten Ball mit unterschiedlich großen Maschen. Den hat Kira für ihn gemacht. »Die Frage ist immer: Nimmt man das an?«, sagt Towfigh. In Kiras Fall erschien es ihm angemessen. »Es kam so ehrlich von Kinderherzen.«

Towfigh ist 43 und seit sechs Jahren Chefarzt der Kinder- und Jugendpsychiatrie in Potsdam. Sein Vater kam einst aus dem Iran zum Medizinstudium nach München und schrieb später ein Standardwerk der Handchirurgie. Seine Mutter hat über die aus dem Iran stammende Bahá’i-Religion promoviert, einen Glauben, dem auch Towfighs Familie anhängt, sein Bruder ist Juraprofessor.

»Wissen war immer wichtig in unserer Familie«, sagt Anis Towfigh mit sanftem Understatement. Er ist ein feingliedriger Mann, der leise redet. Man glaubt ihm anzusehen, dass er seit seiner Jugend tanzt. Es gibt hier Ärzte und Pflegekräfte, die erzählen, dass sie nur seinetwegen in der Klinik arbeiten. »Für ihn ist das eine ethisch-spirituelle Lebensaufgabe«, sagt ein Oberarzt, »sein Dienst an der Menschheit.«

Neben Towfighs Besuchersofa hängt eine Postkarte mit Caspar David Friedrichs Wanderer über dem Nebelmeer, auf der steht: »Ich sehe sie kommen. Bessere Zeiten.«

Wenn Towfigh über die Situation in seiner Klinik spricht, sagt er Sätze wie: »Man muss sich klarmachen: Psychische Erkrankungen sind ein Riesenkiller.« Psychisch Kranke leben im Schnitt 15 Jahre kürzer als Gesunde. Wegen Suiziden, aber auch weil sie sich schlechter zu einem gesunden Lebensstil motivieren können und Nebenwirkungen von Psychopharmaka den Körper schädigen.

Towfigh kennt all die Erklärungen zum Anstieg der Diagnosen: die Smartphone-These, die Allgegenwärtigkeit von Psycho-Problemthemen. Findet er nicht unlogisch, aber er tendiert zu der allgemeingesellschaftlicheren Diagnose und spricht über die realen Krisen und Kriege. »Wenn wir als Gesellschaft ein eher deprimiertes Bild abgeben und keine Hoffnung generieren können – wie sollen das die vulnerabelsten Menschen?«, fragt Towfigh. »Der Druck steigt, das Gefühl von Ausweglosigkeit.« Eine Depression oder Magersucht könne darauf eine plausible Reaktion sein. »Vielleicht ergibt es da Sinn, sich unter der Decke zu verkriechen oder nichts mehr zu essen. Vielleicht kann man so dafür sorgen, beachtet zu werden oder zumindest über den eigenen Körper Kontrolle zu haben, wenn man sich ohnmächtig fühlt.«

Stellt man Towfigh oder den Pflegern und Ärztinnen in seiner Klinik die Ursachenfrage, dauern die Gespräche danach selten lange und enden meist in einem achselzuckenden Ist-halt-so. Als sei die Frage theoretisch interessant, aber hier wirklich nicht der Raum, um groß über sie nachzudenken, weil andere Fragen viel mehr drängen.

Muss man Luca künstlich ernähren, oder hofft man noch einen weiteren Tag, dass sie von sich aus essen wird?

Wer springt für die Kollegin ein, die sich von Kiras Tritt erholt?

An wen geht der eine freie Klinikplatz?

Der konkrete Einzelfall ist hier immer so akut, dass er wenig Platz für Allgemeines lässt.

Bessere Zeiten nicht in Sicht.

Doch Towfigh scheint sie zu sehen, daran festzuhalten und darauf zu vertrauen, dass da etwas ist, trotzdem. Er sagt, man brauche Hoffnung, um heilen zu können. »Das mag jetzt cheesy wirken, aber wir als Behandlungsteam müssen transportieren können: Alles wird gut.« »Cheesy« statt »kitschig« – Towfigh rutschen immer wieder solche Wörter in die Sätze, die klingen, als hätte er sie von seinen jungen Patienten gelernt. Sein eigener »Hoffnungsgeber« , sagt er, sei sein Glaube. Die Bahá’í-Religion sieht in jedem einzelnen Menschen »ein Bergwerk reich an Edelsteinen von unschätzbarem Wert«, so lautet ein Zitat des Religionsstifters.

»Papa!«

Über den Flur fliegt Sophie ihrem Vater entgegen, und hinter ihr her fliegen die Spitzen ihrer beiden Flechtzöpfe. Am Morgen kam extra noch mal ihre Lieblingspflegerin, um ihr Zöpfe – sogenannte boxer braids – zu flechten. »Na, freust du dich auf die Entlassung?«, fragte sie. Sophies »Jaaa« klang eher nach einem Vielleicht.

»Meine Große, du schaffst das«, sagte die Pflegerin, als sie Sophie das letzte Mal umarmte. »Bist du bereit?« – »Ja!« Und so sieht Sophie jetzt wirklich aus, mit ihrem Hoodie und der straffen Flechtfrisur, wie eine kleine Boxerin. Are you reeeeaaady? – So was von.

Ganz anders ihr Vater. Die Sonnenbrille auf dem kahl rasierten Kopf, sagt er nur das Nötigste, so als könne er dann schneller wieder weg.

Sophie ist schon das zweite Mal in der Klinik. In ihrer Kindheit wurde sie von ihrer Mutter und ihrem Stiefvater geschlagen. Die Mutter ist alkoholkrank, Sophie hat keinen Kontakt mehr zu ihr. Kindheit – das klingt, als sei das alles lange her, Sophie ist elf.

»Papa, du musst nur vier Tüten tragen, statt sieben wie letztes Mal«, sagt Sophie.

»Vier? Was ist da denn alles drin?«, fragt ihr Vater, Stirnfalten wellen sich hoch bis zur Sonnenbrille.

Eine Ärztin kommt und nimmt die beiden mit in ihr Büro, Sophie darf auf dem Drehstuhl sitzen. Die Ärztin fasst Sophies Aufenthalt zusammen: »Du bist ja ganz niedergeschlagen zu uns gekommen, wolltest gar nicht mehr.« Sophie nickt langsam und dreht sich, die Arme verschränkt, mit dem Stuhl hin und her.

»Jetzt fühlst du dich wieder besser?«

»Jaaa.« Dieses Mal hört es sich an wie: wahrscheinlich, hoffentlich. Es ist das, was Heilung hier bedeutet. Eine Besserung. Dass zumindest für den Moment der Wunsch, sich zu schützen, wieder größer ist als der Wunsch, sich zu zerstören.

Was Sophie sich für die Zeit draußen erhoffe, fragt die Ärztin.

Kontakt zu ihrem Halbbruder, antwortet Sophie. Weil das aber wohl nicht geht: eine Katze. In der Kunsttherapie hat sie ein Futterschälchen getöpfert.

»Fragen wir auch den Papa: Was wünschen Sie sich?«

»Ich hoffe, dass es jetzt dann auch so bleibt und hier etwas an den Ursachen gemacht worden ist.«

Die Ärztin sagt, dass Sophie stabil wirke. Die sieht auf den Boden und dreht sich mit dem Bürostuhl. Dann erklärt die Ärztin, welche Medikamente Sophie nehmen soll und wann ihr erster Termin in der Klinikambulanz ist, in die sie weiter zur Therapie kommen soll. Sie wünscht Sophie alles Gute und überreicht ihr eine Tafel Kinderschokolade und eine handbeschriebene Postkarte für ihre Abschiedsbox: einen roten Schuhkarton, in den Mitpatienten und Pflegerinnen Briefe, Süßigkeiten und Andenken für Sophie gelegt haben.

Sophies Vater nimmt drei Plastiktüten, sie nimmt eine und die rote Box. Auf dem Flur drückt die Pflegedienstleiterin Angela Herbst einer Patientin eine Konfettikanone in die Hand – ein ohrendröhnender Knall, letzte Umarmungen im Konfettiregen, Winken, bis die unterschiedlich großen Umrisse von Sophie und ihrem Vater am Ende des Gangs ums Eck in Richtung Aufzug verschwinden.

»Sie wachsen uns ans Herz«, sagt Angela Herbst. »Gleichzeitig dürfen wir nicht ihre Familie werden, sodass sie nicht mehr gehen wollen.«

Als Sophie unten in der Lobby aus dem Aufzug kommt, bereiten dort einige Patientinnen gerade ihr Abendessen vor. Lilly hackt Zwiebeln für vegetarische Spaghetti Bolo und nickt zur Musik mit dem Kopf: »You can stand under my umbrella, ella, ella, eh, eh, eh.«

Sophie stellt Tüte und Box ab und schaut noch mal rüber. Miriam spielt Tischtennis. Als der Ball davonhüpft und Miriam ihm Richtung Ausgang hinterherläuft, ruft sie: »Das ist kein Fluchtversuch!«

Die automatische Tür öffnet sich. Sophie schaut jetzt stur nach vorn, die Tüte und die Box in der Hand. Dann ist sie draußen.

*Um die Anonymität der Kinder und Jugendlichen zu sichern, sind ihre Namen sowie einige biografische Details geändert.