Reportagen Porträts Kolumnen Interviews Features Essays Rezensionen Tel. +49 (0) 157 – 380 83 789

Warum wird Haftbefehl so geliebt?

FAS, 2021

Weil, erstens, der Rapper Haftbefehl sehr vieles ist, was sehr viele Leute nicht sind, aber gern wären: krass direkt, ein zwei Meter großer Mittelfinger. Teil des Deals mit seinem Mittelschichtspublikum war es immer, dass Haftbefehl stellvertretend die Pumpgun in die Hand nahm und auf alle miesen Vorgesetzten richtete, auf seinen Sachbearbeiter beim Arbeitsamt genauso wie auf die Deutschlehrerin der Jugendlichen, die ihn hörten. An seiner Wut auf diese Welt konnten alle teilhaben, die Schülerin, die sich fragte, warum Frau Meier ihren Namen falsch aussprach und ihr jedes Mal eine Fünf gab, und der Journalist, der auch so krasse Geschichten erzählen wollte wie Haftbefehl, aber das Landgut schon seit Generationen in der Familie hatte. Und trotzdem musste nie jemand ernsthaft wütend werden und etwas ändern wollen, das übernahm ja Haftbefehl, und nach drei seiner Aggrosongs war man dann auch wieder ziemlich erschlagen.

Zweitens haben sich Haftbefehl und seine Fans in den gut zehn Jahren seiner Karriere angenähert, ein gemütliches Arrangement für alle. Am Anfang starrte er noch mit Hassblick aus Videos und rappte Zeilen wie: „Und ich wollt mich bei Merkel bedanken / Kannst du mich hören, du Schlampe?“ Mittlerweile hat er Autos, Häuser und Kinder und die Wut durch die Erinnerung an Wut ersetzt. Auf seiner neuen Platte „Das schwarze Album“ beschreibt er jetzt den Triumph, es geschafft zu haben, unter anderem so: Das ist wie „als Kanzler kandidieren und gewinnen gegen Merkel“. Längst hat er sich für seine Chemtrail- und Rothschild-Zeilen entschuldigt. Seine Medienverweigerung von früher zeigt sich bloß noch in der Star-Verspätung, mit der er zu Interviews kommt, aber er gibt sie inzwischen so oft und souverän wie sein eigener Pressesprecher. Zwei Dokus (ARD, Amazon) sind zum Album erschienen, in beiden sieht man ihn, wie er Fünfzig-Euro-Scheine an Jugendliche verteilt.

Die Musik ist für Haftbefehls Bild immer egaler geworden. Auch, weil die Musik relativ egal geworden ist. Schon das 2020 erschienene „Weiße Album“ erinnerte daran, weshalb Haftbefehl nicht von Anfang an die unbestrittene Legende gewesen ist, als die er heute gilt, sondern auch ein bisschen ein Rap-Clown. Halbfreiwillig komische Zeilen wie „Mit Instagram-Likes kriegst du nicht mal 'n Eis“, Ballermann-Refrains. In einem Interview erzählte Haftbefehl, dass er sein neues Album zuerst „Gassenhauer“ nennen wollte. Zumindest das ist also geblieben. Die genaueste Sprache für das, was er tut, hat immer noch Haftbefehl selbst.