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Kopf hoch

FAS, 2020

Der Haardoktor und ich saßen uns gegenüber, dazwischen sein vollgestapelter Schreibtisch, und ich überlegte, ob der Haardoktor in mir seine frühere vollhaarige Jugend sah oder bloß einen Mann mit ausgehendem Resthaar. Ich sah definitiv meine kahler werdende Zukunft vor mir. Seine fusselige Tonsur kündete von meiner kommenden Glatze. Ein schreckliches Wort. Haare stehen für Jugend, Attraktivität, Timothée Chalamet. Eine Glatze heißt Alter, Impotenz, Tod.

Der kahle Haardoktor kam um den Schreibtisch herum, strich mir das Haar zurück und sagte: „Ja, da ist einiges weg. Wie sieht es beim Vater aus?“

„Schlecht.“

„Geheimratsecken, Flaumhaar am Ansatz. Die klassische androgenetische Alopezie. Erblich bedingter Haarausfall trifft die Hälfte der Männer“ Er setzte sich hinter den Tisch.

„Und was soll der Quatsch, evolutionär gesehen?“

„Das ist eine Frage, mit der Sie Haarexpertenkongresse einen Nachmittag lang beschäftigen können“, sagte der Haardoktor. „Fest steht, dass manche männlichen Affen im Alter die Haare verlieren. Man hat beobachtet, dass bei Angriffen auf die Gruppe die jüngeren den älteren Tieren folgen. Eine Theorie ist, dass die Glatze eine Signalwirkung hat. Im Dunkel des Dschungels ist ein kahler Kopf gut zu erkennen.“

Mir fielen sehr wenige Situationen ein, in denen ich mir einen glänzenden Signalschädel wünschen könnte, um damit einer Gruppe junger Artgenossen den Fluchtweg durch einen dunklen Wald zu weisen.

„Zugegeben leuchtet dieser Vorteil heute nicht mehr ein“, sagte der Haardoktor. „Aber einige Studien haben festgestellt, dass eine Glatze verlässlich wirken kann und von den Probanden mit Vertrauen verbunden wird.“

Da gab ich ihm sofort recht. Mein Vertrauen in glatzköpfige Männer ist grenzenlos, besonders wenn sie, wie er, einen Anzug und darüber einen weißen Kittel tragen. Ich will trotzdem keinen marmorierten Schädel bekommen.

Seit Jahrtausenden dieselbe Gemeinheit. Männer bekommen Glatzen. Andere Männer nicht. Schon Cäsar trug seinen Lorbeerkranz angeblich nicht, weil er gern ein Blättergesteck auf dem Kopf hatte, sondern um seine Glatze zu verstecken. Cäsar gehörte zu den traurigen Gestalten, die sich ihre Strähnen von hinten in die Stirn kämmen. Klar gibt es auch Männer, zu denen man aufschauen kann, weil sie ihr Schicksal mit mehr Würde ertragen. Jude Law zum Beispiel ist ein attraktiver Mann mit überschaubarem Deckhaar. Aber Jude Law ist Jude Law.

In meinem Bekanntenkreis reden die älteren Freundinnen jetzt über das Einfrieren von Eizellen. Von den männlichen Bekannten kommen die ersten mit einem Anglerhut und knallroter Kopfhaut aus Istanbul zurück. Kürzlich interviewte ich einen TikTok-Star. Er ist vierundzwanzig und sieht aus wie Social-Media-Stars aussehen. Vor dem Fototermin legte er vor dem Spiegel sein fies volles Fronthaar zurecht und sagte: „In letzter Zeit bin ich so unzufrieden mit meinen Haaren.“

„Warum?“
„Früher hatte ich lange Haare, die man zurückwerfen und in denen man rumspielen konnte. Das wird nicht mehr.“

„Ernsthaft?“

„Im Ernst, der Geheimratseckenfonds ist angelegt.“

Dank der modernen Medizin ist die Männerglatze nach Jahrhunderten kein Schicksal mehr. Irgendwo zwischen dem Haardoktor und mir verläuft die Grenze zwischen den Generationen von Männern, denen bloß Hinnehmen, Drüberkämmen oder eine Kopfbedeckung blieb, und den ersten Männergenerationen, die ihre Glatzen mit Tabletten, Transplantationen und Geld wieder zuwachsen lassen können. Mehrere Freunde haben mir bereits versprochen, mich zu meinem dreißigsten Geburtstag in eine Haarklinik zu begleiten, wenn sie mich dafür als Protagonist in einer Reportage verwenden dürfen. Ich denke darüber nach.

Der Haardoktor rasierte mir eine centgroße Stelle kostbarstes Haar ab und setzte dort ein Gerät auf, das wie eine sehr alte Laserwaffe aussah, um etwas namens Computer-Foto-Trichoscan zu erstellen. Nebeneinander saßen wir im bläulichen Schein des Bildschirms und warteten auf das Ergebnis. Wir warteten lang, denn sein Computer hatte als Betriebssystem Windows XP. Als die Zahlen kamen, war ich fast erleichtert, dass der bisher bloß gefühlte Schwund wissenschaftlich bestätigt war. Meine neunundneunzig Haare je Quadratzentimeter sind die Hälfte der Menge eines zwanzigjährigen Mannes mit gesundem Haar. Elf Prozent sind noch Flaumhaare und lassen sich mit etwas Glück und einem Milligramm Finasterid am Tag zusätzlich zum bestehenden Haar aufforsten. Ich fand das wenig, aber der Haardoktor war begeistert. Er verschrieb das Medikament und wünschte „Guten Wuchs“.