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Vince zieht ab

DIE ZEIT, 2024

Zwei Pforzheimer Jungs, die auf dem Bolzplatz alle schwindelig spielen. Bis sie 18 sind, laufen ihre Fußballkarrieren parallel. Aber irgendwann ist einer italienischer Nationalspieler, der andere Spielertrainer in der Kreisklasse. Warum wird ein Traum wahr – und der andere nicht?

Er steht wieder auf seinem Bolzplatz, ein Viereck aufgeplatzter Asphalt mit zwei verrosteten Torrahmen. »Mein Heimstadion«, sagt Marcello Campisi und betastet mit den Sneakersohlen den narbigen Platz, von dort hat er mal einen Fallrückzieher reingemacht, da ist er auf den Kopf geknallt und musste ins Krankenhaus.

Hinter den Dächern ragt Pforzheims Hausberg in den Abendhimmel, ein 420 Meter hoher Haufen Weltkriegstrümmer, genannt Monte Scherbelino. »Ein Kevin Großkreutz ist deutscher Meister und Weltmeister geworden«, sagt Campisi, um einen erfolgreichen Fußballer zu nennen, der garantiert weniger Talent gehabt habe als er. »Ich bin sicher, wir hätten ihn hier schwindelig gespielt.«

Jaja, ist klar. Würde ich bei jedem anderen denken, aber ich war ja dabei und habe gesehen, dass er wirklich jeden schwindelig spielte.

Eine Zeit lang kickten Marcello und ich als Teenager auf demselben Bolzplatz. Es ging um die Ehre, also um alles, aber wenn Marcello kam, ging es noch mal um mehr. Man wusste, dass er Probetrainings bei Werder Bremen und dem VfB Stuttgart gehabt hatte, Gespräche mit Eintracht Frankfurt. Alle wollten mit ihm spielen und sich vor ihm beweisen. Einmal fragte ich ihn, mit wem er gern mal spielen würde. Lionel Messi, sagte er. Kam mir nicht unmöglich vor.

Wenn jetzt im Champions-League-Finale Borussia Dortmund auf Real Madrid trifft, wenn bald die Europameisterschaft in Deutschland beginnt, werden viele Jungs und Mädchen in Trikots länger aufbleiben und davon träumen, selbst mal auf dem Bildschirm zu jubeln. Zwei Millionen Kinder und Jugendliche spielen in Deutschland im Verein Fußball. Aber sogar von den wenigen, die es an ein DFB-Leistungszentrum schaffen, wird nur einer von tausend später mal Bundesliga-Profi.

Marcello Campisi sagt, er habe dran geglaubt, dass er es packt. In der Jugend hat er mit heutigen Nationalspielern zusammengespielt, mit Pascal Groß, gegen Marc-André ter Stegen. Die sind jetzt Millionen wert. Er ist 33, Spielertrainer in der Kreisklasse und verdient da ein paar Hundert Euro, seine letzten Vereine hießen FC Wilferdingen und FV Göbrichen.

Vincenzo Grifo, 31, hat es geschafft: Sein Marktwert beträgt zwölf Millionen Euro, er ist der Topscorer des SC Freiburg, Nationalspieler Italiens (er hofft bis zuletzt auf eine Last-minute-Berufung in den EM-Kader). Begonnen hat er wie Marcello Campisi in Pforzheim, auf so einem Bolzplatz. Die beiden kennen einander, seit sie vier, fünf waren und beim VfR Pforzheim anfingen. Ihre sizilianischen Väter redeten an der Seitenlinie, während ihre Söhne Tor um Tor schossen: Marcello in einer E-Jugend-Saison einmal 81, Vincenzo in der A-Jugend 58, wissen sie noch genau.

Warum packt's der eine und der andere nicht?

Am Tag nachdem wir noch mal auf dem Bolzplatz waren, sitzt Marcello Campisi in einem Konferenzraum des SC Freiburg. Der Blick geht hinaus ins Oval des Stadions. In den gegenüberliegenden Rängen putzen Männchen die Sitzschalen fürs letzte Heimspiel des Freiburger Kulttrainers Christian Streich. Frisch geduscht kommt Vincenzo Grifo rein - abklatschen, Umarmung, wann haben wir uns zuletzt gesehen? Vor zwei, drei Jahren, im Dönerladen in Pforzheim. Er breitet die Trainingsjacke über einen Stuhl, legt Schlüsselbund und iPhone ab und bestellt Kaffee für alle beim SC-Pressesprecher. Bevor eine Frage gestellt ist, reden sie schon, über ihr einziges gemeinsames Spiel, Saisonfinale 2003.

Marcello Campisi Du warst Jahrgang 93 und E1-Spieler, ich war in der D1. Wir sind Kreisligameister geworden.

Vincenzo Grifo Stimmt, mit – wie hieß dieser Trainer?

Campisi: Klaus.

Grifo Klaus, genau. Ohne Haare.

Campisi Im letzten Spiel hat er gesagt: Ey, bei euch ist heute der kleine Vince dabei, der ist der Beste bei sich in der Mannschaft.

Grifo Krass, dass du das noch weißt.

DIE ZEIT Vincenzo, was war Marcello für ein Spieler?

Grifo Er hat den Ball bekommen, erst mal zwei, drei nass gemacht, dann der Querpass oder selber ins Tor, mit seinem linken Fuß. Manchmal zu egoistisch, aber das waren wir alle. Er war ein Ausnahmespieler, der sich das erlauben durfte. Da hat man hochgeguckt. Und dann versucht, sich langsam ranzutasten.

ZEIT Als Kinder habt ihr beide jahrelang beim VfR Pforzheim gespielt. Marcello, du bist zwei Jahre älter: Wann hast du von einem Vincenzo Grifo gehört?

Campisi Ich kenne Vinces Papa, seit ich klein bin. In Pforzheim gibt's die berühmten italienischen Bars. Samstagmorgen bin ich mit meinem Papa ins Café Naro, dort trank er seinen Espresso. Dann bin ich zum Spiel. Danach sind wir nach Karlsruhe zum KSC gefahren, wo mein Bruder spielte. Sonntags saßen die älteren Italiener in der Kneipe und erzählten sich: Hast du gehört, wie der Vince, wie der Marcello, gespielt hat?

ZEIT Laut einer Studie der Uni Bern haben 70 Prozent der besten Schweizer Fußballer einen großen Bruder, mit dem sie sich messen konnten. Ihr auch. Vincenzo, deiner, Francesco, war deutscher Vizemeister im Hallenfußball. Marcello, deiner, Mario, hat in der Jugend beim KSC gespielt und in der Nationalmannschaft.

Campisi Das waren Maschinen. Ich weiß noch, wie mein Bruder gesagt hat: Ich bin jetzt Totti oder Del Piero. Ich wollte immer nur Mario Campisi sein.

Grifo Du willst dein Bruder sein. Meiner hat mich immer auf den Bolzplatz mitgenommen.

Campisi Dort hat man mit Sechzehnjährigen gespielt, im Verein gegen Zwölfjährige. Das war, wie wenn du gegen Jüngere spielst. Auf dem Bolzplatz gibt's auch kein Foul. Wenn du die Älteren aussteigen hast lassen, haben die dich auch mal umgehauen und dann gefragt: War Foul? Aber du hast deinen Stolz, auch vor deinem älteren Bruder, und sagst ...

Grifo ... nee, war kein Foul.

Campisi Aber gedacht hast du: Ich kann nie wieder laufen.

(Beide lachen.)

Sie beenden Sätze füreinander, und für Pointen gibt es Fistbumps; immer ist es Campisi, der Grifo die Faust hinhält, und die meisten Pointen kommen auch von ihm. Grifo sagt öfter »er«, wenn er über Campisi spricht, und als Interviewprofi kann er in Statements antworten, die sicherheitshalber auch mal in Fußballersätzen ausklingen (»Ich fühle mich total wohl hier im Verein und in Freiburg«). Bei Campisi klingt alles nach einem Wiedersehensgespräch (»Weißt du noch, unser Jugendleiter, der dicke Toni aus Sizilien?«).

Wenn Grifo in Interviews gefragt wird, was er hatte, was anderen guten Fußballern fehlte, fällt meistens irgendwann das Wort: Disziplin.

Campisi In der Schule mussten wir über unsere Aufgaben immer »Schularbeit« schreiben, zu Hause »Hausarbeit«. Also habe ich in der Schule nur »arbeit« geschrieben, bin heim und habe »Haus« davorgeschrieben. Runter zu Mama: So, ist erledigt. Ich wollte nur auf den Bolzplatz.

Grifo Da war ich echt deutsch. Ich habe immer meine Hausaufgaben gemacht, damit Mama oder Papa nicht meckern, weil die gesagt haben, Schule ist wichtig.

Campisi Bei uns gab's nur eine Regel: Du bist zu Hause, wenn die erste Laterne angeht. Dann sind wir heim und haben vor den Garagen weitergespielt.

ZEIT Vincenzo, diese Disziplin hattest du nicht nur in der Schule, auch im Sport. Nach dem Training bist du noch joggen gegangen, mit Gewichten an den Beinen.

Grifo Ja, das war mit 15, 16. Ich weiß nicht, woher diese Disziplin kam.

Campisi Mein Bruder war auch so diszipliniert. Der ist vor der Schule aufgestanden und gejoggt, zehn Kilometer. Diese Disziplin hat mir, muss man ehrlich sagen, ab 15, 16 auch ein bisschen gefehlt.

Grifo Das waren bei mir auch nur vielleicht acht Prozent. Die anderen 92 Prozent waren einfach Spaß am Kicken.

Campisi Bei mir ist es irgendwann zu einer Pflicht geworden. Geliebt habe ich den Fußball nur noch auf dem Bolzplatz, im Verein habe ich ihn gehasst, weil da mein Vater war. Während des Spiels ist er ausgerastet, aber am meisten Angst hatte ich vor dem Heimweg. Habe ich vier Tore gemacht, hätte ich sieben machen müssen.

Fragt man Vincenzo Grifo, was Marcello Campisi gebraucht hätte, um Profi zu werden, sagt er: »Ein kleines bisschen mehr Disziplin. Und ein wenig Glück, um die richtigen Entscheidungen zu treffen.«

Bis zum 18. Lebensjahr lesen sich ihre Lebensläufe so, als seien sie die einer Person. Die Väter kamen beide als sogenannte Gastarbeiter nach Pforzheim, für die Schmuck- und für die Autoindustrie. Mit 18 wechselten Marcello und Vincenzo im letzten Jugendjahr aus Pforzheim zum KSC. Doch während Vincenzo nach einer Saison zur TSG Hoffenheim ging und mit 19 in der Bundesliga debütierte, blieb Marcello nur kurz in Karlsruhe und ließ sich von einem kleinen Oberligaverein nahe Pforzheim abwerben.

Campisi Das war die schlechteste Entscheidung. Ich hätte ein Jahr beim KSC A-Jugend-Bundesliga spielen müssen, um mich großen Vereinen zu präsentieren.

Grifo Voll, kann sein, du machst da sechs, sieben gute Spiele, und alle wollen dich.

Campisi Bei mir war der Knackpunkt, dass meine Eltern sich da gerade haben scheiden lassen. Zu Hause war nur Chaos. Ich wollte eine eigene Wohnung, dafür brauchte es mehr als die 250 Euro, die Jugendspieler beim KSC gekriegt haben.

Grifo 249,95.

Campisi Plus Fahrkarte. Da habe ich mich entschieden: Okay, du gehst in die Oberliga, verdienst tausend Euro im Monat und stehst auf eigenen Füßen. Im Nachhinein denke ich: alles falsch gemacht.

Fragt man Campisi, was ihm gefehlt hat, sagt er: vor allem Selbstvertrauen. Er erzählt von seiner instabilen Familie. Sein Bruder habe »körperlich richtig kassiert« und als Dreizehnjähriger dem Vater unterschreiben müssen, dass er Profi wird. An seinem eigenen 13. Geburtstag habe er nach einer Niederlage zwei Ohrfeigen von seinem Vater bekommen, vor Freunden. Stundenlang habe der ihm am Küchentisch erzählt, was er falsch mache. »Danach bist du ins Zimmer gegangen und hast gedacht, du bist das größte Stück Scheiße dieser Erde.« Alle Kinder, die heute Ähnliches erleben, will er ermutigen: Holt euch Hilfe.

Campisi Als ich 14, 15 war und mein Bruder 20, hat er sich schwer verletzt. Meinem Vater war klar: Der wird kein Profi mehr. Ab da war der doppelte Druck auf mir. Du musst, du musst, du musst.

Grifo Und du wolltest nur Spaß haben.

Campisi Dir können eine Million Leute sagen, dass du der Beste bist. Aber wenn dir dein Vater sagt, dass du nichts kannst, dann trifft dich das anders.

Grifo Ins Herz. Dein Papa ist ja ein Vorbild für dich. Lieber fünf andere weniger, und dafür lobt dich dein Vater.

ZEIT Vincenzo, was hat dein Vater gesagt, wenn du mal nicht so gut gespielt hast?

Grifo Kritisiert hat er mich schon: Hasch heute selber gemerkt, oder? Aber er hat mir auch gesagt, dass ich gut war, wenn ich drei Tore geschossen habe. Das war anders wie bei dir.

Campisi Dein Papa ist auch ein Ruhiger. Der hat immer entspannt zugeguckt. Ich glaube, dass einem Sohn das Ruhe gibt.

Grifo Sehr. Das ist bis heute so: Um mich zum Durchdrehen zu bringen, braucht's viel Geduld.

Campisi Ich war schon sehr impulsiv.

Grifo Das weiß ich noch.

Campisi Mein Vater hat auch immer reingeschrien. In vielen Spielen habe ich total konzentriert gespielt, bis eine strittige Szene kam und er draußen explodiert ist. Da bekommt man einen Adrenalinstoß.

ZEIT Pforzheim wirkt nicht wie das einfachste Umfeld für zwei Jungs mit dunklen Haaren und italienischem Namen. In den Neunzigern, als ihr geboren wurdet, hatten die Republikaner mal 18,5 Prozent, heute ist die AfD stark. Was habt ihr davon gespürt?

Grifo Gar nichts. Null Komma null.

Campisi Auf dem Bolzplatz gab's das gar nicht. Da waren ja alle von überallher.

ZEIT Und im Verein – wie oft hast du da »Spaghettifresser« gehört?

Campisi Eine Million Mal.

Grifo Ich kann dir sagen, warum. Weil du zu gut warst. Weil sie gewusst haben, nur so können sie dich provozieren und haben vielleicht eine Chance.

ZEIT Vincenzo, wenn du die Jugendspieler beim SC Freiburg siehst – würdest du es heute noch mal schaffen, dich gegen sie durchzusetzen?

Grifo Es wäre deutlich schwieriger, weil die viel früher viel weiter sind. Ich bin ja ein Spätzünder, der erst mit 18 aus Pforzheim zum KSC kam. Wenn der Trainer dort seine Taktiktafel geholt und gesagt hat, wir spielen heute 4-2-3-1, habe ich nicht sagen können, wie wir anlaufen. Wie auch? In Pforzheim war die Ansage nur: Mach, was du willst. Die 18-, 19-Jährigen heute sind noch schneller im Kopf. Wie die sich bewegen.

Campisi Aber technisch sind sie lange nicht so begabt. Taktisch und körperlich, ja. Die gehen mit zwölf ins Fitnessstudio. Wir waren auf dem Platz Freigeister.

Grifo Das sind natürlich nicht die, für die man ins Stadion geht. Von denen hast du zwei Stück in der Bundesliga: Florian Wirtz und Musiala.

ZEIT »Wir brauchen wieder mehr Bolzplatzmentalität.« So hat der ehemalige DFB-Direktor Oliver Bierhoff erklärt, was der deutschen Nationalmannschaft fehlt. Sterben Straßenfußballer aus?

Campisi Es gibt viel weniger Straßenkicker. Auch weniger Trainer, die Straßenkicker wollen. Du musst im System funktionieren, in zwei Viererketten gegen den Ball verschieben. Ich schaue inzwischen viel südamerikanischen Fußball, da gibt`s mehr Show, die gehen auch mal ins Eins-gegen-eins. In der Bundesliga spielen viele wie Roboter, safety first.

ZEIT Die Bolzplätze wirken heute auch ein bisschen leerer, oder?

Grifo Was heißt ein bisschen – die sind tot. Bei uns waren alle Plätze ab Sonntagmorgen um neun Uhr voll.

Campisi Und ich will jetzt niemand diskriminieren, aber selbst der Dicke ist gekommen. Der ist dann ...

Beide gleichzeitig ... ins Tor.

ZEIT Marcello, wenn du Vincenzo im Fernsehen zusiehst, tust du das mit einem lachenden und einem weinenden Auge?

Grifo Oder sagst du immer: Ach herrje, jetzt steht er wieder falsch?

Campisi Wenn ich Vince zuguck, dann guckt mein Herz mehr als mein Auge. Weil es trotzdem sehr schön ist, dass es einer von uns geschafft hat. Am liebsten hätten es alle geschafft, ein Mario Campisi, ein Francesco Grifo, ich, Vince ...

Grifo Wir haben alle dafür gekämpft.

Campisi Ich weiß noch, als Vince in Dresden war, hat einer auf Facebook mal was Schlechtes über ihn geschrieben. (2014 wurde Grifo von Hoffenheim an den Zweitligisten Dynamo Dresden verliehen; er machte in 13 Spielen ein Tor, der Verein stieg in die 3. Liga ab, Anm. d. Red.) Da habe ich drunterkommentiert: Hör mal zu, du Körperclown. Du hast selber noch nie den Ball grad getreten. Danach hast du mir geschrieben: Marce, danke, aber ignorier das einfach. Das ist eine große Stärke von dir, dass du diese dicke Haut hast. Wenn ich kann, guck ich Vince zu.

ZEIT Ihr habt für eure Fußballkarriere einen Preis bezahlt: mit dem, was ihr verpasst habt.

Campisi Deine Jugend ist hops.

Grifo Absolut.

ZEIT Spürt man 30 Fußballerjahre auch im Körper?

Campisi Brutal. Gerade habe ich erst zu meiner Frau gesagt, dass ich keine Flipflops mehr tragen kann, weil mir die Knie so wehtun. Ich glaube, in der Landesliga habe ich noch mehr auf die Knochen gekriegt, als wenn ich Oberliga oder dritte Liga gespielt hätte. Bei mir ist ja das Ding: Ich weiß nie, wie gut ich hätte werden können. Du hast mit Profis trainiert und dabei noch mal einen Sprung gemacht.

Grifo Klar.

Campisi Ich werde nie wissen, was bei mir drin gewesen wäre. Vielleicht hätte es nicht für die Bundesliga gereicht. Aber für die dritte Liga, da bin ich sicher.

Grifo Das hättest du hingekriegt.

Campisi In der Kreisliga behandelt man den Körper nicht mehr wie ein Profi. Man hat keinen Ernährungsplan, keine Physio, keine Massagen.

Grifo Mein Körper ist mein Kapital, mein Ferrari. Schau mal, wie verwöhnt wir sind. (Er zeigt hinter sich auf den Rasen.) Sobald wir mal einen holprigen Platz haben, gibt's manche bei uns, die sagen: Hier kann man nicht kicken. Ich denke mir: So bin ich aufgewachsen. Damals konnten wir doch auch drauf kicken.

ZEIT Woran merkt man, dass der Ferrari jetzt 31 Jahre alt ist?

Grifo Gar nicht. Aber dieser Ferrari geht ja auch jeden Tag in die Werkstatt. Ich kann zur Massage, habe hier meinen Osteopathen. Als Landesligaspieler würde ich mit 31 wohl auch dastehen und sagen: Boah, jetzt merk ich's aber.

Campisi Hart ist es, wenn man aufhört. Das habe ich ein paarmal gemacht, als ich keinen Bock mehr auf Fußball hatte. Da hat man sofort acht, neun Kilo drauf. Wenn der Körper seit 25 Jahren dran gewöhnt ist, dass er tagtäglich Fußball spielt, isst man ja auch so.

Grifo Das wird uns immer mitgegeben. Wenn du als Vollprofi mal 35, 36 bist, ist es fürs Herz nicht gut, direkt runterzudrosseln auf ein, zwei Tage Sport. In der Regel habe ich von Montag bis Freitag sechs, sieben Trainingseinheiten, samstags läufst du im Spiel 12, 13 Kilometer. Man macht 35, 40 Kilometer die Woche. Ein Ex-Profi geht vielleicht nur noch ein-, zweimal laufen – deshalb haben die meisten sieben, acht Kilo mehr.

ZEIT Hörst du die Uhr ticken und denkst: Jetzt habe ich noch zwei, drei gute Jahre?

Grifo Länger, hoffe ich. Ich fühle mich sehr fit. Und ich bin ja Fußballspieler, weil es Spaß macht, nicht wegen dem Geld. Wenn ich mit 35, 36 merke, ich komme nicht mehr hinterher, sagt man sicher mal: Fußball spiele ich weiter, weil ich ihn liebe und er mich ablenkt, aber woanders. Als Ausgleich.

Campisi Mach dir keine Sorgen, ich suche einen Co-Trainer.

(Beide lachen.)

Die vereinbarten 90 Minuten, plus Verlängerung, sind um, die Insider-Anekdoten werden mehr. Was macht der eigentlich – »kennsch noch den Baransel?« – »Klar, Banane.« Dann räumt Grifo die Kaffeetassen weg, ganz Hausherr, und gibt eine Tour durchs Stadion. Mit dem Aufzug geht es nach unten zu den Massageräumen, zum Fitnessstudio, dem Eisbad. »Unser Physio«, stellt er den einzigen Mitarbeiter vor, der zu sehen ist. Aufgereiht neben einem kleinen Kunstrasenfeld liegen SC-Trikots in Kindergrößen, darauf Eddings. »Die müssen wir alle bis Donnerstag unterschreiben«, erklärt Grifo, sonst gibt's Strafe.

In der Kabine stehen Tape-Rollen und Kaugummidöschen auf einem Tisch, an drei Wänden reihen sich die Spielernischen aneinander, sieht ein bisschen aus wie ein Chorgestühl. Grifo sitzt im Umkleiden-Halbkreis links vorn, da, wo er auch spielt, auf seinem Platz ein Gucci-Necessaire. Aus einem Müllsack über seiner Box holt er zwei neu glänzende Stollenschuhe und wirft sie Campisi zu - »ich hoff, mit dene gibsch dich zufrieden«. Es sind allerdings zwei linke. Grifo sucht im Plastiksack nach einem rechten und signiert das Paar neben einem Italienfähnchen an der Ferse. »Damit du für deine Kinder was zum Vorzeigen hast.«

Vor dem Stadion sind Bierwagen und Wurststände aufgebaut. Christian Streich hat die Mitarbeiter zum Abschied eingeladen. Nach zwölf Jahren als Cheftrainer und südbadischer Fußballdialektiker hört er zum Saisonende auf. Grifo nennt Streich, der ihn 2015 nach Freiburg holte und 2019 – nach Stationen in Gladbach und Hoffenheim – wieder dorthin zurück, eine »Vaterfigur«.

»Bei dir wird ein Auge weinen, wenn der Streich geht, oder?«, fragt Campisi, als wir über den Parkplatz laufen.

»Absolut. Er hat mich als Rohdiamant gesehen und gesagt: Ich schleif dich. Er hat mich spielen lassen, dafür habe ich Tore gemacht. Das ist das gewisse Glück. Wenn niemand an dich glaubt, kannst du dich ja gar nicht präsentieren. Ich kann, glaube ich, von mir sagen, ich bin ein guter Spieler, aber ich hab's in Gladbach und Hoffenheim auch nicht geschafft. Bissle gescheitert.«

Er lässt einen grünen Porsche aufleuchten, VG und seine Rückennummer 32 auf dem Kennzeichen. An dieser Systematik erkennt Campisi auch die SUV von zwei weiteren SC-Spielern. »Ich hatte schon ganz andere Autos«, sagt Grifo, »aber damit komme ich nicht mehr hierher.« Freiburg ist halt Fahrradstadt und ein Porsche wenigstens ein regionales Produkt. Ich sitze neben dem Kindersitz, vorn erzählt Grifo von seinen zwei Töchtern. »Willsch nicht noch einen Jungen, der Fußball spielt?«, fragt Campisi, der eine Tochter und einen Sohn hat. Ja, manchmal wünsche er sich so einen kleinen Chef zu Hause. »Ich spiele noch ein, zwei Jahre, bis mein Sohn so alt ist, dass man ihm den Ball hinwerfen kann«, sagt Campisi. »Ich würde mich schon sehr freuen, wenn er Lust auf Fußball hat.« Dann möchte er ihn trainieren.

Als Grifo uns vorm Hotel absetzt, wartet an der Ampel ein Junge, ein Ball unter dem Arm, auf seinem Freiburg-Trikot steht: Grifo. »Was gibt's Schöneres?«, sagt der. »An Spieltagen fährst du zum Stadion, und gefühlt die halbe Stadt hat dein Trikot an. Welcher Mensch darf das erleben?« Und nach hinten zu mir mit Blick auf Campisi: »Er kann mich am meisten verstehen. Er wollte es auch unbedingt. Dass man das, wenn man es hat, schätzt – das ist das größte Talent.«

Am nächsten Mittag hat Grifos SC Freiburg ein öffentliches Training. Es ist Vatertag, hinter Absperrungen schauen Fans in Rot-Schwarz einer Torschussübung zu. Liebevoll-strenge Kritik aus dem Publikum: »Der Vince, der trifft heute nichts.« Auch Campisi stichelt sanft: »Er wirkt nicht mehr so spritzig. Der Schnellste war er ja nie.« Aber um das noch mal klarzustellen: »Er ist ein geiler Kicker. Mit Abstand der Beste in Freiburg. Bei manchen hier frage ich mich, wie die das geschafft haben.« Er gehe traurig heim, sagt Campisi später, es sei einfach schade.

Vincenzo Grifo wird nach dem Training Selfies mit Fans machen, Autogramme geben und dann mit der Familie zu seinem Teamkollegen Christian Günter fahren, der links hinter ihm spielt. Marcello Campisi wird zu Hause in Pforzheim erwartet, die vierjährige Tochter hat am Telefon schon geweint. Sein Sohn ist eins. Er heißt Lionel.