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Man schaut ja so selten nach oben

DIE ZEIT, 2022

Alle müssen Energie sparen. Derweil brennen in Berlin 1400 Gasstraßenlaternen auch tagsüber. Unser Autor hat eine von ihnen näher kennengelernt

Kraftlos schleppt sich der Augusttag in den Morgen, als müsse er nichts mehr beweisen, weil es genug Sommertage gab. Trüber Himmel, unten zartrosa. Google muss verraten, wann die Sonne aufgeht, man sieht ja nichts von ihr außer einem Schimmer im Dunst. Aha, 6.04 Uhr. Das wäre dann ziemlich genau jetzt.

Minuten später erlischt die erste Straßenlaterne an der Ecke Marien­straße/Schillerstraße. Wie in einer Choreografie folgen: Die Gaslaterne mit dem angeketteten Fahrrad einen Mast weiter; die, nicht gerade hellste, Leuchte in bedenklicher Pisaturmschräglage ein Stück die Straße runter; und dann, um kurz vor halb sieben, geht auch die Lampe im Schatten des Kastanienbaums aus.

Bloß eine Laterne nicht. Die leuchtet weiter.

So hatte ich mir das vorgestellt, die Heldinnengeschichte einer tapferen Straßenlaterne, die brennt und brennt. Auf der Suche nach meiner Heldin hatte mich ein Lokalzeitungsartikel über eine dauerbrennende Lampe in den Berliner Randbezirk Lichterfelde Ost gelockt, in ein Wohngebiet mit Gründerzeitvillen, dessen kopfsteingepflas­terte Straßen alte Gaslaternen säumen.

Aber, erste Erkenntnis: stimmt gar nicht. Keine einzelne Laternenheldin - ein Drittel des Laternenspaliers an der Marienstraße leuchtet, unbeeindruckt von der immer helleren Sonne.

Entschuldigung, eine Frage an Sie, die Frühaufsteherin, die jetzt aus einem Mehrfamilienhaus kommt, um Mülltüten rauszubringen: Brennen die Laternen immer tagsüber?

„Dit hab ich noch jar nicht bemerkt. Da achtet man ja nicht so drauf.“ Aber ja, nun, da sie überlege, kürzlich sei es ihr aufgefallen, dass die brennen. Wann denn kürzlich? „Vielleicht vor zwei Jahren?“ Okay. Macht da niemand was? In ihrem wortlosen Lächeln liegt die Schicksalsergebenheit der Bewohnerin einer Stadt, in der alles, was mit Verwaltung zu tun hat, dem Verhandeln mit einer Naturgewalt gleicht.

Achtung, tägliche Dosis Hauptstadthäme: In Berlin, wo Politiker Duschtipps verteilen, brennen nicht nur 22.500 gasbetriebene Straßenlaternen, mehr als in jeder anderen Stadt der Welt - 1400 davon leuchten rund um die Uhr, weil man sie nicht mehr abschalten kann. 1400 gereckte Mittelfinger der öffentlichen Hand in Richtung der zum Sparen aufgeforderten Bürger, so kann man eine Lampe vor der eigenen Haustür, die am ­helllichten Tag Gas verbrennt, schon mal sehen.

Überhaupt Gas! Muss man in dieser Zeit nicht von Gazlaternen sprechen? Von russischen Cash-Maschinen auf deutschem Boden? Stehen da am Straßenrand die Mahnmale unserer Halbherzigkeit?

Es stellen sich ein paar Fragen, wenn man an einem Vormittag auf vier, fünf, ach, da hinten, sechs brennende Gaslaternen schaut. Erst mal aber die nahe­liegendste: Welche dieser ewigen Flammen wird meine? Zumindest für einen Tag. In der Psychoanalyse würde man von Objektwahl sprechen. Bei RTL von Casting. Unter einer Laterne vor einem Bungalow, an dem es schon im Vorbeigehen zu Gardinengeziehe kommt, will ich keine Stunden verbringen. Eine andere Straßenleuchte hat einen Abfall­eimer mit der Aufschrift „Würstchen­bude“ umgehängt, den die Anwohner offenbar für die Hinterlassenschaften ihrer Hunde nutzen. Bei der nächsten schwachen Funzel gehen bloß zwei der vier Leuchten oben, Glühstrümpfe genannt.

Nein, meine Laterne soll nicht stinken oder halb funktionsfähig sein. Ich will ein perfektes Exemplar - und da steht sie schon vor mir: Die Straßen­laterne 3, die Ziffer ist ihr auf den grauen Mast gepinselt. Laut der Website stoerung24.de handelt es sich um Leuchtstelle 02966-2320003-00 und eine Aufsetzleuchte vom Typ BAMAG U7. Es hat auch schon jemand eine Störung meiner Laterne gemeldet, angeblich befindet sie sich in Sanierung.

Sorry, aber Störung, Sanierung - ist das nicht etwas despektierlich für eine alte Laterne, die bloß notorisch überperformt? Treu spendet sie ihr wirklich schönes Licht, heimelig wie die Scheinwerferaugen von Mutters erstem Golf. Ganz anders als das fiese Flutlichtscheinwerfer-LED-Licht, in dem man sich fühlt, als ob man in einem Kühlschrank wohnt.

Erste Inspektion von Kopf bis Fuß: Oben trägt meine Lampe eine Art ­Tropenhelm als Schirm. Darunter ­kommen die vier daumengroßen Glühstrümpfe in einer Glasglocke. An die Querstrebe darunter, das Leitereisen, lehnte früher der Laternenanzünder seine Leiter. Getragen wird die Leuchte vom 3,30 Meter langen Mast, der im Sockel endet: „LINEMANN U. NETZEL ALUMINIUMGIESSEREI BERLIN 1955“ ist dort eingeprägt, vermute ich, die Gravur ist etwas verwittert.

Neben der Laterne setze ich mich auf einen Baumstumpf, und dann passiert erst mal nichts. Streetlife in Lichterfelde Ost um kurz nach acht morgens: wenig lebhaft. Mutter und zwei Kinder brausen auf Rädern vorbei. Meine Laterne steht vor einer verwilderten Baulücke zwischen zwei Mehrfamilienhäusern mit dem typischen Berliner Hausende, fenster­lose Betonfassade, die aussieht wie mit dem Messer abgeschnitten. Gegenüber erhebt sich eine schlossartige Villa mit Türmchen und goldenen Spitzen über die Hecke.

Die übernächste Laterne leuchtet auch, und weil dahinter ein weißer ­Mercedes SUV in die Einfahrt einbiegt, schnell ein Ausflug dorthin. Frage an den grauhaarigen Herrn, der mit einer knisternden Brötchentüte aussteigt: Brennt die Laterne vor Ihrem Haus auch immer?

„Unsere Laterne“, spricht Jens Karstedt wie über ein altes Gerät, das man wegen der Macken liebgewonnen hat, „brennt seit acht Wochen ununterbrochen“. Er habe sie gemeldet, nicht die einzige Beschwerde von Anwohnern der Straße, sagt Karstedt. „Wir hätten nichts dagegen, sie würden sie einfach abschalten, wir haben ja unsere eigenen hier.“ Er zeigt auf die guss­eisernen Laternen, die seine Zaun­pfeiler krönen - kein Gas, energie­sparende LEDs. „Aber anscheinend bekommen sie die dann nicht mehr an.“ Höfliches Fazit von Herrn Karstedt: „Die Vorbildfunktion des Staates lässt hier zu wünschen übrig.“

Unter meiner Laterne öffne ich die Mail, mit der mir die Berliner Senats­verwaltung für Umwelt, Mobilität, Verbraucher- und Klimaschutz erklärt, was das Problem meiner Laterne sei. „Bei Wartungsarbeiten wurden Gasundichtigkeiten in der Laterne festgestellt, sodass das automatische Schalten (Zünden) aus sicherheitstechnischen Gründen nicht mehr zulässig ist.“ Die Aus- und Einschaltung, die ein Helligkeitssensor in der Lampe steuert, habe man daher ab- und auf Dauerbeleuchtung umstellen müssen, um die gesetzlich vorgeschriebene Beleuchtung der Straße nachts weiterhin sicherzustellen. Sonderlich besorgt über die Dauergasverbrennerin klingt der Senatssprecher nicht. Der ­Gasvertrag sei von 2020, der Preis für die Kilowattstunde „(noch) sehr günstig“. 550 Euro koste meine Laterne im Jahr, sie verbraucht so viel Gas wie ein Single-Haushalt. Der Sprecher verspricht noch, dass sie in den kommenden Tagen ­repariert werde. Na, das wollen wir ja mal sehen.

Schon 2012 beschloss Berlin, seine 44.000 Gaslaternen bis 2020 auf LED umzurüsten. Doch der Austausch ist teuer, bis zu 10.000 Euro je Laterne. Bei momentan noch 22.500 Lampen könnten das 225 Millionen Euro werden.

„Es ist das unverwechselbare Ber­liner Licht“, schwärmt am Telefon Bertold Kujath, Vorsitzender des ­Vereins Gaslicht-Kultur. „Man darf die Laterne nicht nur als Kostenfaktor ­sehen. Das Berliner Gaslaternennetz ist ein einmaliges Kulturgut aus dem Industriezeitalter und hat das Potenzial zum Weltkulturerbe.“ Kujath spricht über Laternen, die 200 Jahre alt ­werden könnten, weil der Gasfluss durch den Mast verhindere, dass sie rosteten; von ihrem Gaslicht ohne Blauanteil, in das sich keine Insekten verirrten. Bald hat man das Gefühl, die Gaslaterne sei nicht Umweltsünderin, sondern Wel­ten­­­retterin.

„Es ist klar, dass aktuell in der Gaskrise die Gaslaterne ein brisantes Thema ist“, gibt Kujath zu. „Aber wir können doch nicht wegen einer temporären Krise unsere Kultur über den Haufen werfen!“

In dem Moment sehe ich, auf dem Baumstumpf sitzend, wie ein Hündchen sein Bein dazu anhebt, meine Laterne zu schänden. He! Kulturgut, Weltkulturerbe! Die Besitzerin zerrt ihren weißen Dackel gerade noch rechtzeitig weg. Ich deute auf meine Leuchte: Ist Ihnen aufgefallen, dass die immer brennt?

„Ich gehe hier zweimal am Tag Gassi, aber das sehe ich das erste Mal. Man schaut ja so selten nach oben. Aber da soll mir noch einmal wer kommen nach dem Motto sparen, sparen, sparen.“

Ach, meine Laterne. Die Leute übersehen sie einfach. Oder sehen in ihr statt einer alten Dame, die viel erzählen könnte, eine, pardon, Klimasau.

Von Beginn an hatte die Gaslaterne nicht nur Fans. 1819 hieß es in der Kölnischen Zeitung: „Die Sittlichkeit wird durch Gassenbeleuchtung verschlimmert. Die künstliche Helle verscheucht in den Gemüthern das Grauen vor der Finsternis, das die Schwachen von mancher Sünde abhält. Diese Helle macht den Trinker sicher, daß er in Zechstuben bis in die Nacht hinein schwelgt, und sie verkuppelt verliebte Paare.“ Statt finstere Gestalten fernzuhalten, wie das Straßenbeleuchtung heute soll, hatte man Angst, mehr von ihnen zu sehen, als einem lieb war. Und überhaupt, was maßte sich der Mensch an, die Nacht zum Tag zu machen?

1826, als die ersten Gaslaternen ­Berlins auf dem Boulevard Unter den Linden entflammten, spannten Passanten Schirme auf, geblendet vom hellen Wahnsinn. Sie waren das intime Licht von Kerzen und Öllampen gewohnt. Erst später sah man darin Enge und Rückständigkeit. Das helle, körperlose Gaslicht leuchtete den Weg in die Moderne. Es war kein blasphemischer Move mehr, den gottgegebenen Tagesrhythmus zu ändern, es war ein Versprechen. Wenn der Mensch so etwas bewerkstelligen konnte, dann konnte er alles.

Heute beleuchtet meine Dauer­verbrennerin die Schattenseiten von zu viel wirtschaftlichem Fortschritt: Ressourcenverschwendung, Klimakrise. Statt Zukunft sehen wir Altmetall.

Am späten Nachmittag parkt ein Transporter unter meiner Laterne: „Energie Effizienz Experte“ steht darauf. Kommt hier etwa schon der vom Umweltsenatssprecher versprochene Repa­rateur meiner Laterne?

Doch statt loszulegen, bleibt der Handwerker bei laufendem Motor sitzen. Klopf, klopf - reparieren Sie die Laternen hier? „Damit hab ich nüscht zu tun“, berlinert es durch den Fenster­scheibenschlitz. Aber Sie sind doch Energieeffizienzexperte, können Sie die nicht schnell abschalten? „Vielleicht mit einem Tritt.“ Unterstehen Sie sich! „Ehrlich gesagt macht das null Unterschied“, sagt der Handwerker. Neue Heizanlagen, gedämmte Dächer - da gebe es wirklich Einsparpotenzial, nicht bei Duschköpfen oder einer kleinen Straßenlaterne. Der Handwerker nimmt einen Schluck aus dem Pappkaffeebecher: „Da machen se nur ­Symbolpolitik.“

Was heißt hier nur Symbolpolitik? Symbolpolitik ist doch die wirklich ­interessante Politik. Willy Brandts Kniefall - schönste Symbolpolitik. Ein wirkmächtiges Symbol verändert mehr als zehn Gesetze oder hundert Poli­tikersätze. „Jede Kilowattstunde zählt“, kann der Wirtschaftsminister noch so oft sagen, glaubt kein Mensch, der einmal bemerkt hat, wie eine Gaslaterne im Sonnenschein brennt.

Und alles Symbolische beiseite - es ist auch nicht nichts, was sich an der Gaslaterne einsparen ließe: Zwei Millionen Euro Gaskosten und 4400 Tonnen CO2 weniger könne Berlin im Jahr verursachen, wenn man die Gasbeleuchtung dimme und zum Teil ausschalte, hat der in Lichterfelde Ost geborene Grünen-Abgeordnete mit dem sprechenden Namen Benedikt Lux ausgerechnet. Er plädiert für ein schnelles Ende der Gaslaterne, jetzt erst recht: „Ich hoffe, der Umbau zu LED wird beschleunigt und bestimmte Liebhaber und der Denkmalschutz haben ein Einsehen.“

Als mein Schatten von meiner Laterne bis zum Nachbarinnen­mast reicht, gehe ich die Marienstraße hoch und runter. Spätsommerabend: Ein Gartenschlauch hängt in einen Aufblaspool, Rasensprenger zuckeln. Entfernt dröhnt ein Flugzeug. Aus den Fenstern fällt das blaue Licht der Fernseher auf den Gehweg, an dem jetzt, mit einem Knacken und ­einer Stichflamme wie an einem Gasherd, die Laternen mit intaktem Tag-Nacht-Rhythmus anspringen.

Erst in der Dunkelheit sieht man, wie wenig hell sie leuchten. Herrn Karstedts LEDs am Zaun überstrahlen beinahe seine Gaslaterne vor der Einfahrt. Allein das Anwesen gegenüber meiner Laterne hat mehr Lichter, als ich zählen kann. Kugelleuchten am Gartenweg, Bodenstrahler im Rasen, Wandlichter, Laternen vor dem Treppenaufgang. Nimmt man dazu all die flackernden Displays aus den Häusern, die Balkonlampions und die rot blinkenden Autoalarm­anlagen, entsteht eine nächtliche Tatort­beleuchtung, in der mein mickriges Gaslicht erscheint wie ein Candle-Light unter einem Baustrahler.

Liebe Laterne, denke ich, wie ich ihr gegenüber auf einer Mauer sitze und in den gräulichen Nachthimmel schaue, dich braucht hier wirklich ­niemand mehr. Deine Zeit ist vorbei, sehen wir es ein. Besser so für alle.

Ich gehe zu ihr rüber und lehne mich an ihren Mast. Sanft hört man das Gas darin zischen. Ich drücke mein ganzes Gewicht dagegen. Dann umfasse ich das Metall mit den Händen, rüttele dran. Gleichmäßig fällt das Gaslicht auf mich. Auffällig unauffällig schaue ich mich um - und verpasse der Laterne einen schnellen Tritt. Hell klirrt das Glas oben in seiner Fassung. Die Leuchten darin zucken nicht mal. Meine Laterne brennt weiter.

Ein paar Tage später besuche ich sie noch einmal. Kleiner Kontrollrundgang. Wieder früher Morgen, wieder beginnt bei Sonnenaufgang das Laternenballett. Erst eine, da noch eine, dort - und dann erlischt auf einmal meine Laterne. Ohne letztes Aufflammen. Einfach aus.

„Erfahre gerade, dass wir schnell waren“, klärt der Sprecher der Umweltsenatsverwaltung per Mail auf: „Die Dauerbrenner in der Marienstraße wurden gestern alle getauscht, sagt mir mein Fachbereich.“ Er klingt zufrieden.

Ich bin mir nicht so sicher, ob auch ich es bin.