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Emma und die bösen Jungs

FAS, 2020

Was ist Gangsta-Rap? Was hat er mit Greta Thunberg zu tun? Und wer sind Moritz und Emma? Wichtige Fragen, die letzte Woche eine Titelgeschichte des „Spiegel“, nun ja: beantwortete.

Auf dem Cover ein Mann im Halbschatten, Mittelfinger hoch, Rolex am tätowierten Handgelenk. Punchline: „Die Faszination des Gangsta-Rap“. Darunter: „Wie böse Jungs und Clan-Romantik die Kinderzimmer erobern“. Da zuckte der innere Klugscheißer. Erobern? Gangsta-Rap? 2020? Es musste sich um eine schwierige Einkesselungsaktion handeln, wenn die Kinderzimmer nach gut dreißig Jahren Belagerung durch fieseste Gangsta-Rapper noch immer nicht erobert waren. Aber okay: Gangsta-Rap, 2020. Auch die Risiken der Internetpornografie werden ja bis heute gern diskutiert.

Groß ging das los, und heiter ging es weiter. Mit Karren und Knarren. Und mit Moritz und seinem Vater, einem Mann mit Kombi und Reihenhaus, der hoffentlich von Beruf „Spiegel“-Redakteur ist, denn sonst müsste man sich in folgender Szene neben den beiden einen Reporter-Creep vorstellen. Der vierzehnjährige Moritz und sein Vater (plus „Spiegel“-Reporter) gehen auf ein Konzert der 187 Strassenbande (Gangsta-Rapper wie Gzuz, Bonez und LX), für Papa „eine Welt, die ihm fremd war und in der ihm sein Sohn nun immer fremder wurde. Der Vater stand hinten im Saal, vorn auf der Bühne rauchte dieser LX einen Joint nach dem anderen, dazwischen Moritz, hin- und hergerissen.“

Nun weiß jeder, der einmal ein Konzert der 187 Strassenbande gesehen hat, dass zwischen der Bühne vorn und hinten im Saal sehr viel Platz ist, ungefähr flugzeughangarmäßig viel Platz. Garantiert konnte Moritz ohne Probleme so tun, „als würde er seinen Vater nicht kennen“. Wie er gleichzeitig zwischen Tausenden Fans in seiner Nähe blieb, denn „wer sonst sollte die ganze Zeit filmen, für die Instagram-Story, die Moritz am nächsten Tag natürlich ins Netz stellen wollte“, das möge die Dokumentationsabteilung rekonstruieren. Abgesehen von der Frage, warum ein Vierzehnjähriger bis zum nächsten Tag wartet, um eine Instagram-Story ins Netz zu stellen.

Logisch sind das gemein herausgepickte Einzelheiten, die wenig sagen, aber viel insinuieren. Also genau die Methode, die der „Spiegel“ anwendet. Neben Moritz ist die zweite Rap-Hörerin im Text Emma – dreizehn „Spiegel“-Leute haben vergeblich nach einem Teenager gesucht, der oder die mit vollem Namen über die gefährliche Leidenschaft Gangsta-Rap redet. Also: „Emma, 19, Studentin aus Leipzig. Wird Psychologin, wählt die Grünen, ernährt sich vegan.“ Und hört Gangsta-Rap. „Ein schlechtes Gewissen? Hatte sie trotzdem noch nie.“

Ja, warum auch? Wegen Greta Thunberg. Weil Gangsta-Rap für alles steht, wogegen junge Menschen wie Greta, Moritz und Emma eintreten. Sportwagen, Luxuskleidung. „Nur in Rapsongs gilt hemmungsloser Konsum noch als geil.“ Dass kürzlich vor Weihnachten in München alle Rolex-Uhren ausverkauft waren, liegt garantiert an den vielen Gangsta-Rappern.

Man versteht wirklich nicht, was der Vorwurf ist: dass unter Zwanzigjährige kein moralisch widerspruchsfreies Weltbild haben? Darauf einen Nachschlag Rindertartar in der „Spiegel“-Kantine. Klar ist hingegen, welches Narrativ hier bedient wird. Das von den „bösen Jungs“ (assi, migrantisch), die unsere Kinder (bürgerlich, deutsch) versauen.

Wirklich lustiger Quatsch wird der Artikel dann, als das Rechercheteam den Rapper RAF Camora vorstellt, der „Größte in einem Genre, in dem jeder der Größte sein will“. RAF machte 2016 ein Album mit dem 187-Rapper Bonez zum Star. Auf dem bekanntesten Hit der beiden, „Palmen aus Plastik“, ist die einzige Zeile von RAF, die in Richtung Kriminalität geht: „Chill am Balkon, rauch Blunts, und ich träume/Mein Meer klingt wie Motorgeräusche“. Wenn Gangsta-Rap so klingt, wer macht dann keinen Gangsta-Rap?

Zum Beispiel Bausa, ein erfolgreicher Rapper, der im „Spiegel“ nicht vorkommt. Dabei ließen sich von ihm Zeilen zitieren wie: „Ich lass keine Hurentochter ungefickt/Alle wollen meinen Dick/Sogar Lesben werden umgedreht“. (Sorry.) Genau wie RAF Camora fährt Bausa teure Autos, nimmt sich in Texten Frauen und Drogen. Der Unterschied: Bausa, restlos deutsch, heißt bürgerlich Julian Otto, RAF Camora, die Mutter Italienerin, Raphael Ragucci. Bausa gehört folglich in die Kategorie hohler, aber harmloser Radio-Pop - RAF Camora, genauso poppig, genauso im Radio, zu den gefährlichen Gangsta-Rappern. Wer hören will, wie absurd die Unterscheidung ist, vergleiche irgendeinen Song von Bausa mit dem Liebeslied „Adriana“ von RAF Camora oder besser noch mit seinen alten Liedern unter dem Namen RAF 3.0. Dagegen ist Mark Forster ein Gangsta-Rapper.

Als der (schwarze) Musiker Tyler, The Creator diese Woche einen Grammy fürs beste Rap-Album bekam, sagte er: „Wenn Leute, die wie ich aussehen, ein genreübergreifendes Album machen, landet es immer in der Kategorie ‚Rap‘ oder ‚Urban‘. Warum können wir nicht einfach Pop sein?“

Ja, was macht Ragucci zu einem bösen Jungen, Otto aber nicht? Nach zehn Seiten über Gangsta-Rap bleibt bloß die Antwort: der Nachname.