Warten auf ein Wunder
GEO, 2019
Hindus verehren „Maa Ganga“ als Göttin: Ein Bad im indischen Ganges soll Gläubige von Sünden reinwaschen, Tote der Erlösung näher bringen. Dabei hätte der Fluss selbst Reinigung und Rettung dringend nötig
Das Metalltor öffnet ein Wärter mit Flip-Flops und Maschinenpistole.
Ich suche den Retter des Ganges, in Haridwar, dieser heiligen Stätte des Hinduismus. Auf einem Drehstuhl unter einem alten Mangobaum sitzt der Swami, ein dürres Männlein mit grauen Haarsträhnen und zottligem Bart. Er trägt ein weißes Gewand und an den Füßen Holzsandalen. Als ich herantrete, schreit der Wächter: „Stopp! Nicht näher!“ Er schiebt mir einen Gartenstuhl hin, und aus einer Entfernung von etwa fünf Metern rufe ich zum Swami hinüber.
„Verzeihung, Swami Shivanand, ich wollte Ihnen nicht zu nahe kommen.“
„Ich habe vorgestern mein Fasten beendet, und mein Immunsystem ist noch geschwächt“, antwortet der alte Mann. Etliche Male ist Swami Shivanand schon in den Hungerstreik getreten für den Ganges. Seit mehr als 20 Jahren kämpfen er und seine Jünger gegen Umweltfrevel in Haridwar. Swami Shivanand erhielt Morddrohungen, daher der Wächter am Tor.
Draußen vor dem Aschram fließt der Ganges; der Fluss ist noch frisch, klar, reißend hier, nur 250 Kilometer entfernt von seiner Quelle im Himalaya. Er hat mehr als 2000 Kilometer vor sich, bevor er sich in einem trägen, breiten Delta in den Golf von Bengalen ergießen wird.
„Als ich als junger Mann nach Haridwar kam, war der Ganges sauber und sein Ufer fast unberührt“, sagt der Swami. „Es gab wenig Menschen und viel Wasser. Heute ist es umgekehrt.“
Was der Swami fordert, ist so radikal wie sein Vorgehen, um es zu erreichen: kein menschlicher Eingriff in den Ganges. Alle Stauwerke abreißen.
„Wir können den Fluss nicht reinigen“, sagt Shivanand. „Wir können auf den nächsten Monsun warten und hoffen, dass er sich selbst reinigt.“ Aber dazu müssten die Talsperren weg.
Wie will er das bewerkstelligen?
„Meine Jünger und ich führen ein einfaches Leben“, sagt der Swami. „Wir haben kein Geld, keine Kontakte. Wir können nur nerven.“ Ob das genügen wird, den Ganges zu retten?
Maa Ganga nennen die Menschen in Indien den Fluss, „Mutter Ganges“. Jahr für Jahr schwemmt er so viel Wasser und fruchtbaren Schlamm aus dem Himalaya, dass mehr als fünf Prozent der Weltbevölkerung in seinem Becken leben können. Seit Jahrtausenden ist dieses Becken eines der am dichtesten besiedelten Gebiete der Erde.
Mutter Ganges gilt Hunderten Millionen Hindus als Göttin: Sünden wäscht sie hinweg, Sterbenden wird ihr Wasser eingeflößt. So wichtig ist sie für die Rituale des Hinduismus, dass Inder im Ausland das Fläschchen Gangeswasser für rund sechs Euro online bestellen können.
Und doch behandeln die Menschen in Indien den Ganges nicht, wie man eine Göttin behandeln würde: Milliarden Liter Abwasser landen jeden Tag im Fluss. An manchen Stellen wird der Grenzwert für Kolibakterien um das Vieltausendfache überschritten. Der Ganges, eine heilige Kloake.
„Ich fühle, dass Maa Ganga mich gerufen hat. Ich schwöre, sie zu reinigen“, rief der indische Premierminister Narendra Modi im Jahr 2014, und versprach ein Programm zur Reinigung des Flusses: „Namami Gange“. Die Restaurierung des deutschen Rheins, obwohl nur knapp halb so lang, dauerte 30 Jahre und kostete weit über 40 Milliarden Euro. Das Budget für Namami Gange beträgt umgerechnet rund drei Milliarden Euro bis 2020.
Wie gigantisch die Aufgabe ist, wird klar, wenn man dem Ganges auf seinem Weg durch den indischen Subkontinent folgt. Und an seinen Ufern Menschen trifft, die ohne den Fluss nicht leben können: Totengräber und Gerber, Heilige und Kastenlose, Sandräuber und Umweltschützer. Und einen Richter, dem der Ganges für einen kurzen Moment zu Weltruhm verholfen hat.
Nainital: Der Richter als Anwalt für Mutter Ganges
Rajiv Sharma empfängt in seinem Amtszimmer. Der Richter ist ein massiger Mann von 1,90 Meter, dessen schwarzes Haar an den Schläfen ergraut. Über dem schweren Holzschreibtisch hängt ein Gandhi-Porträt. Draußen, vor dem Fenster des Büros, sitzt auf einem moosigen Ast ein Ganges-Brillenvogel und putzt sich das weiß-gelbe Gefieder.
Mit 40 000 Einwohnern, die sich um einen Bergsee scharen, ist Nainital, der Sitz des Obersten Gerichtshofs im Bundesstaat Uttarakhand, kein Zentrum internationaler Jurisprudenz. Doch im März 2017 erging von hier ein Urteil, das es in die Weltpresse schaffte. In einem kleinen Fall hatten Sharma und ein Kollege das größtmögliche Urteil gesprochen. Sie erklärten den Ganges zu einem Lebewesen, „mit dem Status einer juristischen Person und all deren Rechten und Pflichten“.
Einerseits war dies eine Degradierung – von der Göttin zur Person –, andererseits galt es damit als Körperverletzung, Indiens heiligen Fluss zu verschmutzen. „Haben in Deutschland viele von meinem Urteil gehört?“, fragt Rajiv Sharma, nachdem ein Bediensteter in weißer Uniform Tee serviert hat. „Naja“, sage ich vage, „vielleicht ein paar.“ Er schaut enttäuscht. „Haben Sie meine Urteile gelesen? Ich habe mehr als 80 000 Urteile gesprochen. Sie müssen sie lesen.“
„Alle?“
„Nicht alle, aber die wichtigen.“
„Wie viele?“
„8000, vielleicht 9000“, sagt er und schickt den Bediensteten zum Drucker.
Folgte auf sein Urteil irgendetwas Konkretes, eine einzige Klage gegen einen Verschmutzer?
„Nein“, sagt der Richter.
Was hat es dann gebracht?
„Es hat Sie hierhergebracht.“
Aufmerksamkeit also. Für den Ganges. Und für den Ganges-Richter.
Im Juli 2017 setzte Indiens Oberster Gerichtshof das Urteil aus, wegen „Unhaltbarkeit“. Ein Umweltaktivist aus der Industriestadt Kanpur sagt über Sharmas Urteil: „Es war eine ehrenhafte Idee, und vollkommen verrückt. In Indien haben nicht mal alle Menschen Menschenrechte – wie kann sie da ein Fluss haben?“
Kanpur: Die Stadt der wütenden Gerber
Einst nannten die Briten Kanpur „Manchester des Ostens“, wegen der florierenden Spinnereien. Mittlerweile ist Kanpur eine dieser Industriestädte, denen die Industrie verlorengeht. Dreieinhalb Millionen Menschen leben hier; ein Fünftel der Bewohner sind Muslime. Weil ihnen die Gerbereien gehören, Kanpurs wichtigste Exportindustrie, ist ihr Einfluss groß.
Der Mitarbeiter einer Umweltschutzorganisation führt mich durchs Gerberviertel. In den Höfen der Fabriken spannen Jugendliche einige Häute zum Trocknen auf; tabakkauende Lastenträger schieben auf Holzkarren Rohleder heran. Der Gestank ist kaum zu beschreiben, vielleicht als eine Mischung aus warmen Schlachtabfällen und Rohrreiniger. Zwischen den Gerbereien rinnt in Kanälen eine schwarz-blaue Brühe zum Ganges hinab. Die Schweine und Kinder, die darin wühlen, haben dieselbe Farbe angenommen. Eigentlich passt „Manchester des Ostens“ immer noch ganz gut: So könnte es in englischen Städten während der industriellen Revolution ausgesehen haben.
Im Innenhof einer Gerberei empfängt mich ihr Besitzer Naiyer Jamal. „In Allahabad und Varanasi fanden Feste der Hindus statt, und die Regierung hat uns befohlen, die Produktion zu stoppen“, klagt er. Wenn flussabwärts gefeiert wird, dann macht die Regierung die Gerbereien dicht – damit die Gläubigen sich bei ihrem Bad im Fluss nicht reihenweise vergiften. Er habe seinen größten Kunden in den USA verloren, sagt Jamal. „Ich konnte mich nicht an das Lieferdatum halten.“ Kanpurs Gerber sehen sich als Sündenböcke. „Millionen Hindus pissen und scheißen in den Fluss, Tausende Fabriken leiten ihr Abwasser hinein, aber wir Gerber – zufällig zu 99,99 Prozent Muslime – sollen an seiner Verschmutzung schuld sein?“, fragt Jamal. „Bei mir haben sich schon Leute flussaufwärts beschwert, dass ich ihr Wasser verschmutze.“
Etwa 50 Millionen Liter Wasser verbrauchen die Gerbereien nach Schätzungen am Tag. Es gibt ein Klärwerk, halb von der Regierung finanziert, halb von den Gerbereien, das zumindest neun Millionen Liter reinigen könnte. Doch es erreicht selten seine Kapazität. „Die Angestellten verkaufen den Diesel für die Generatoren“, sagt Jamal, „und die Regierung tut nichts dagegen.“
„Seit 30 Jahren versuchen unsere Regierungen, den Ganges zu reinigen“, sagt ein Umweltaktivist in Kanpur. „Unter Modi hat sich nur eines geändert: Die Ganges-Reinigung ist zu einer hinduistischen Ganges-Reinigung geworden. Sie befeuert die Spannungen zwischen Hindus und Muslimen.“
Handia: Der Sandräuber liebt seine Delfine
Einige Kilometer flussabwärts von Kanpur beheimatet ausgerechnet einer der dreckigsten Abschnitte des Flusses wegen seiner Tiefe etwas einzigartig Schönes: die letzten Ganges-Delfine. Ein paar Dutzend Tiere sollen hier noch leben.
An einem strahlenden Morgen gehe ich bei Handia die Stufen zum Ganges hinunter. Am sandigen Ufer ankern Barken aus Holz. Ihre Ladung drückt sie tief ins Wasser. In metallenen Schalen tragen Arbeiter Sand auf ihren Köpfen zu wartenden Traktoren. Der Abbau ist ein gutes Geschäft: An allen Stellen wird gebaut, da ist Sand eine knappe, wertvolle Ressource. Der Sand hier ist gestohlen, der Abbau verboten. Doch das scheint niemand zu kümmern.
Ein Mann kommt auf mich zu; er trägt ein mauvefarbenes Hemd. Das schwarze Haar ist voll, der Schnurrbart perfekt gezwirbelt und sein Händedruck der zarteste, den ich je gespürt habe. „Delfine?“, fragt er, als wisse er schon, was ich wolle.
„Komm auf mein Boot, mein Freund, ich zeige sie dir.“ Kamlesh Verma – so heißt mein Freund – verscheucht einen Alten von einem Gartenstuhl und führt mich über eine Planke auf eine Barke. Den Stuhl stellt er auf den Bug und platziert mich darauf als Galionsfigur; dann schieben wir uns auf den trüben, stehenden Fluss. Wir schippern dahin, da springt der erste aus dem Wasser.
„Schau!“, ruft Verma, „Da! Und da!“ Er zieht sein Smartphone aus der Brusttasche und versucht, eines der Tiere zu erwischen. „Wir sind inmitten einer Schule!“
Natürlich lebt Kamlesh Verma, wie er mir später erzählt, nicht nur davon, Touristen Delfine zu zeigen. Ihm gehören vier Traktoren; mit dem Verkauf von Sand schafft er einen täglichen Umsatz von 120 000 Rupien: 1500 Euro, ein Vermögen.
Verma besteht darauf, mich zum Bus zu bringen. Sein Jeep ist so weiß wie seine Zähne, aus den Boxen wummert Hindi-Hip-Hop, und auf der Motorhaube ragt neben dem linken Frontlicht ein Indienfähnchen in die Höhe, wie bei einem Beamten außer Dienst. Der Sandraub ist ein lohnendes Geschäft, wenn man gute Verbindungen hat.
Jayapur: Das Modelldorf des Premierministers
Wenn man irgendwo Erfolge der Maßnahmen zur Rettung des Ganges sehen können müsste, dann in Jayapur. Es ist eines von Tausenden Dörfern am Ganges – aber eines, das der Premierminister adoptiert hat. Am Dorfeingang empfängt ein Plakat mit dem Bild von Narendra Modi; am Dorfplatz betreibt Subhash Singh einen kleinen Laden, verkauft Kekse, Bananen. Singh zeigt auf die solarbetriebenen Straßenlaternen, die Post auf der anderen Seite des Platzes, ein Toilettenhäuschen. „All das hat Modi uns gebracht, wir sind stolz, dass er unser Dorf ausgewählt hat.“ Mit 3000 Einwohnern soll Jayapur ein Modelldorf für Indien werden, umweltschonend und wohlhabend, ein Dorf, aus dem niemand in die Städte flieht.
Glaubt man Subhash Singh, dann ist Jayapur das schon, und weil er will, dass wir ihm glauben, gibt er uns seinen Sohn Hrithik mit, der dem Übersetzer und mir das Dorf zeigen soll.
Mit der Offenheit eines Achtjährigen stellt Hrithik unter der nächsten Straßenlaterne klar, dass die Lampen nicht funktionieren. „Jemand hat die Batterien geklaut, und niemand kommt, um sie zu ersetzen.“ Als wir an einer Reihe Toilettenhäuschen vorbeigehen, die Türen eingeschlagen, die leeren Öffnungen von Spinnweben überwachsen, erklärt Hrithik: „Wir benutzen sie nicht. In diesem Teil des Dorfes haben alle eigene Toiletten. Sie sind sauberer als die öffentlichen.“
Und in welchem Teil haben sie keine eigenen Toiletten? Das sei eine Viertelstunde entfernt, sagt Hrithik. Wir zuckeln über einen Feldweg zwischen Reisfeldern, Hrithik voran, auf dem Lenker seines Mountainbikes wippt ein Indienwimpel. Neben dem Weg tröpfelt aus Bewässerungsleitungen Wasser auf die Reispflänzchen, Gangeswasser; zu Pyramiden getürmter Kuhdung wird von der Sonne hart gebacken.
Die Wohnsiedlung umfasst ein Dutzend kleiner Häuser, vor ihnen bieten Bäume Schatten. Frauen zerkleinern mit rostigen Sicheln Grasbüschel, Männer tun im Wesentlichen nichts. Die Menschen haben ein paar Kühe, Reisfelder, aber die gehören ihnen nicht, sie bewirtschaften sie nur.
Am knorrigen Stamm des größten Baumes lehnt Sraswati Devi, mit 75 die Älteste der Siedlung. Was sich seit der Adoption durch den Premierminister verändert habe, will ich wissen.
„Nichts“, sagt Devi. Ich zeige auf die Laterne vor einem Haus. „Die ist kaputt, und die Reparatur können wir uns nicht leisten.“ Die Toilettenhäuschen? „Schlecht“, sagt Devi. Die Sickergrube laufe ständig über, sodass die meisten nun doch wieder in die Felder gingen – etwas, das es laut Regierung gar nicht mehr gibt: Offiziell ist Defäkation im Freien ausgerottet.
Von was sie lebe, fragt der Übersetzer. Wie hoch ist ihre Rente?
„Eigentlich 1000 Rupien“, sagt Devi, also 12,50 Euro. „Jedes halbe Jahr.“
Der Übersetzer fragt nach, weil er glaubt, er habe sich verhört. „Alle sechs Monate“, beharrt Devi, „aber seit Modi hier Häuser gebaut hat, ist Schluss. Sie meinen, ich brauche jetzt keine Rente mehr.“
Als wir die Siedlung verlassen, trottet uns ein Alter hinterher, ich warte darauf, dass er nach Geld fragt, aber er tut es nicht und bleibt irgendwann einfach zurück. Wenn dies das Modelldorf des Premierministers ist – wie sehen dann die anderen Dörfer am Ganges aus?
„Genauso“, sagt mein Übersetzer, der etwa 100 Kilometer von Jayapur entfernt aufgewachsen ist. „Bloß, dass nicht auf jeder Parkbank ‚Gespendet von Narendra Modi‘ steht.“
Varanasi: Die Heilige Stadt der Hindus
Wenn Modi den Ganges wirklich reinigen wollte, müsste er sich mit der Macht jahrtausendealter Hindu-Traditionen anlegen. Und mit Frauen wie Yamuna Devi. Sie ist ungefähr 70 Jahre alt und hat ein Gesicht wie aus Wurzelholz. An einem heißen Nachmittag setze ich mich zu ihr in den Schatten einer Säule am Manikarnika Ghat, einer Terrasse am Flussufer, neben das heilige Feuer, das sie hütet. Devi ist eine Dom, von der Kaste der Unberührbaren, die Varanasis Verbrennungsstätten betreiben.
Für Hindus ist das Bad im Ganges religiöse Pflicht, um Sünden abzuwaschen. Gelingt es zudem, ihre Asche nach dem Tod im Fluss zu versenken, bringt sie dies der Erleuchtung näher.
Ein kahlgeschorener Mann in weißem Gewand tritt an die Bestatterin Yamuna Devi heran. Ein Trauernder. Der Mann nennt Zahlen, Devi schaut gelangweilt. Die Zahlen wachsen, irgendwann nickt sie kaum merklich, und er reicht ihr 1800 Rupien, gut 20 Euro, um die Leiche seiner Mutter verbrennen und mit Devis Feuer entzünden zu dürfen. Devi legt die Scheine in eine eiserne Schatulle, die sie jeden Abend mit einem bewaffneten Wachmann nach Hause bringt, gibt ihren Arbeitern einen Wink, und sie schaffen das Holz heran.
Etwa 100 Leichen verbrennen Devis Angestellte am Tag. Der offizielle Preis für das ewige Feuer liegt bei 375 Rupien, knapp fünf Euro, aber Devi nimmt, wovon sie glaubt, dass ihre Kunden es gerade noch bezahlen, irgendwas zwischen 300 und 3000 Rupien. Wer mehr zahlt, bekommt einen Platz auf einer Terrasse etwas oberhalb; wer sich das nicht leisten kann, verbrennt seine Angehörigen auf der aschegeschwärzten Erde unten am Fluss. Das Brennholz verkaufen umliegende Händler. Oft stammt es aus dem südlicheren Madhya Pradesh, denn Teile Uttar Pradeshs sind bereits abgeholzt.
Devis Arbeiter schichten den Holzstoß für den Leichnam der Mutter. Der Mann entzündet ein Strohbündel an der ewigen Flamme und damit dann den Stoß. Nach zwei, drei Stunden wird das Feuer mit Gangeswasser gelöscht, die Asche im Fluss verstreut. Dort tauchen die jüngsten Doms nach Nasen- und Ohrringen, die sie verkaufen können.
„Uns Doms respektiert man nur bei den Verstorbenen“, sagt Devi. „Meine Söhne sollten Ärzte werden oder Ingenieure. Aber sie fanden keinen Studienplatz. Jetzt arbeiten sie im Krematorium, und das werden auch ihre Söhne tun.“ Über die neue Konkurrenz, ein Elektrokrematorium, das der Staat bauen ließ, kann Devi nur lachen. „Ein Elektrokrematorium in einer Stadt, in der dauernd der Strom ausfällt – wer denkt sich das aus?“
So wird das ewige Feuer noch lange brennen. Immerhin will die Regierung die Folgen der Bestattungsrituale bekämpfen: Sie ließ fleischfressende Schildkröten im Ganges aussetzen. Denn oft enden Leichen halbverbrannt im Wasser, weil sich die Angehörigen nicht genügend Brennholz leisten können.
Später frage ich eine Pilgerin, die mit ihrer Mutter aus Delhi angereist ist, wie sie freiwillig in dieses Wasser steigen kann. Sie schaut mich amüsiert an und sagt: „Ich bade hier nicht freiwillig. Meine Religion verlangt es.“
Und ihre Mutter. Die wollte einmal in ihrem Leben nach Varanasi pilgern. Nun steht sie in einem gelbroten Sari in der braunen Brühe, spritzt sich Wasser ins Gesicht und taucht prustend unter, während ihre Tochter sie festhält.
Solche Szenen sehe ich an vielen Pilgerorten: Die Alten baden und beten, ihre Kinder warten mit trockener Kleidung, und die Enkelkinder filmen die Pilgerreise am Smartphone, höchstens einen Fuß ins Wasser setzend.
Kolkata: Im Gangesdelta
Nördlich von Kolkata beginnt sich der Ganges in ein mächtiges Mündungsdelta aufzufächern. Ein großer Teil des Deltas liegt in Bangladesh. Auf indischer Seite verrinnt der Ganges als Hugli nach Süden durch Kolkata in Richtung des Indischen Ozeans.
Ich treffe Mohit Ray, Mitte 60, Chemieingenieur, Umweltaktivist in Kolkata. Seit Jahrzehnten untersucht er die Gewässer der Stadt und kämpft für ihren Erhalt. Als die Stadtverwaltung beschloss, die Metro auszubauen, ging er vor Gericht, denn die neue Trasse sollte entlang des Adi Ganga geführt werden, eines Hugli-Ganges-Nebenarms, und mitten über dem Wasser verlaufen.
„Ich bin nicht gläubig. Für mich ist der Ganges ein dreckiger Fluss“, sagt Ray.
Kolkatas oberster Gerichtshof wies seine Klage ab. Die Baufirma rammte 300 Betonstelen in den Adi Ganga. „Wenn man die Leute fragt: ‚Eine neue Metro oder ein hübscher Fluss?‘ – klar nehmen sie die Metro, die nützt ihnen viel mehr.“
Auf dem Rückweg von meinem Treffen mit Ray teile ich ein Taxi mit zwei jungen Frauen. Shradha und Sheila tragen hohe Schuhe und enge Jeans, beide arbeiten für einen IT-Dienstleister: Wenn Angestellte eines Unternehmens in Kanada ihren Rechner nicht hochfahren können, rufen sie Shradha oder Sheila in Kolkata an.
Ich frage sie nach der Legende, wonach der große Gott Shiva die Göttin Ganga aus ihrer Heimat, der Milchstraße, auf die Erde gebracht habe.
Ein Fluss als Göttin? Was ist davon zu halten? Ist das noch zeitgemäß?
„Eine Göttin als Fluss“, korrigierte Shradha mich. „Ja, glaube ich.“
„Hast du mal drin gebadet?“
„Einmal. Als Kind, weil meine Eltern es wollten. Am nächsten Tag hatte ich überall Ausschlag.“
Einige Kilometer weiter südlich, im Bengalischen Golf, mündet der Hugli schließlich in den Indischen Ozean. Auf Sagar Island im Golf pilgern jedes Jahr Hunderttausende Hindus, um den heiligsten ihrer Flüsse zu verabschieden. Das Wasser, das hier abfließt, hat von der Quelle im Himalaya gut 2500 Kilometer zurückgelegt.
Als ich ankomme, sehe ich nur drei Pilger. Ein Mann kniet andächtig im nassen Sand, die Stirn in der Brandung. Zwei Frauen setzen Kokosnüsse aufs Wasser. Eingewickelt in Plastiktüten dümpeln sie auf grauen Wogen davon.
Ob sie auf ein Wunder hoffen?
Sie wären nicht die einzigen. Bis zum März 2020, so hat die indische Bundesregierung angekündigt, werde der Ganges wieder zu 100 Prozent sauber sein.