Starschnitt
DIE ZEIT, 2020
Falco Punch ist das deutsche Gesicht der Video-App TikTok. Sein Markenzeichen: „Transitions”, unsichtbare Übergänge und Verwandlungen. Weltpolitik war ihm bisher ziemlich egal. Das ändert sich gerade
Sein drei Stunden und 15 Minuten langes Epos „Titanic” drehte der Regisseur James Cameron in 160 Tagen. An jedem dieser Tage erschuf der Oscarpreisträger mit seinen Schauspielern eine Minute und 13 Sekunden des Blockbusters. Geht man von Acht-Stunden-Arbeitstagen aus, brauchte Cameron also eine Stunde Dreh für gut neun Sekunden Film.
Sein erfolgreichstes Video, eine Performance zu Shakiras Hit „Hips Don’t Lie” mit 50,6 Millionen Aufrufen, filmte der TikTok-Star Falco Punch in fünf Stunden, schätzt er. Der Clip dauert fünfzehn Sekunden. Eine Stunde Dreh für drei Sekunden Video.
Der Vergleich als Teaser zum Einstieg, denn bei „Social-Media-Star” und „Influencer” denkt man ja schnell mal: Okay, da hat sich halt jemand mit hübschem Gesicht vor eine Kamera gestellt und bekommt seitdem Klamotten, Kosmetika und Einladungen zu Gartencentereröffnungen zugeschickt, herzlichen Glückwunsch. Falco Punch kennt diese Vorurteile, er hat sie auch. „Wenn ich sehe, welchen Trash viele machen, werde ich richtig kiebig, aber darauf stehen die Leute”, sagt er über Influencer, ein Wort, das er nicht mag.
Er bevorzugt den Begriff „Video Creator”, so nennt das soziale Netzwerk TikTok seine Nutzer. Die chinesische Videoplattform hat Facebook, YouTube und Instagram zwischenzeitlich als die monatlich am häufigsten heruntergeladene App überholt. Mit ihrem Erfolg ist Falco Punch, 24, ausgebildeter Tischler aus Schleswig-Holstein, zu einem Social-Media-Star aufgestiegen und zum deutschen Gesicht der App. Mehr als neun Millionen Fans hat er auf TikTok. Dummerweise nur, das merkt Falco Punch gerade, wünscht sich TikTok noch schneller als andere soziale Medien neue Gesichter. Und dann kommt ihm jetzt noch die Weltpolitik in die Quere.
An einem Septembertag steht er auf einer einspurigen Straße zwischen Feldern in der Nähe seines Heimatdorfes eine Stunde nördlich von Hamburg. Wolken ziehen dramatisch vorbei, als läge Schleswig-Holstein in Mordor. Falco Punch trägt ein graues T-Shirt und eine dunkelgraue Hose, die weiße Streifen am Knie hat und am anderen ein Loch, aus Stylegründen. Er hält sein iPhone 11 Pro vor sich und am ausgestreckten Arm einen weißen Adidas-Sneaker. „Wenn Leute mich beobachten, müssen sie denken, ich bin verrückt”, sagt er.
Seine Idee: Den Turnschuh so hinter sich zu werfen, dass er aus seiner Drehung in der Luft in die nächste Einstellung schneiden kann, ein Auftreten auf die Straße mit dem Schuh am Fuß. Ein unsichtbarer Schnitt, sein Markenzeichen – eine Minisequenz für ein neues Video. Der Sneaker muss dafür im Flug in einem ähnlichen Winkel rotieren, in dem ihn Falco Punch in der nächsten Szene auf den Asphalt aufsetzen wird. Der Bildausschnitt mit den Feldern im Hintergrund muss sich in beiden Einstellungen entsprechen. Die Sonne sollte nicht plötzlich durch die Wolken strahlen. Kein Traktor darf durchs Bild fahren. Im Idealfall lägen noch Falco Punchs dunkelblonde Haare gut. So steht er auf der Straße und wirft und wirft den Sneaker. Manche Szene, die später im Video keine Sekunde dauert, musste er 500 Mal drehen.
Zur seltsamen Art der Berühmtheit eines Internet-Stars wie Falco Punch gehört es, dass man vielen nicht erklären muss, was er tut, weil sie das täglich auf ihrem Display sehen. Den anderen kann man das kaum erklären, weil er nicht viel tut. Er tanzt nicht wie andere TikTok-Stars. Er singt nicht. Er redet nicht mal. In der NDR Talk Show versuchte Falco Punch selbst, sein Tun zu erklären. Er sagte: „Sehr viel in 15 Sekunden komprimiert.”
Seine Spezialität nennt er „Transitions”, was Übergänge und Verwandlungen heißen kann. Er filmt sich dabei, wie er Aussehen und Setting wechselt, passend auf den Beat einer Hintergrundmusik. Anders als bei harten Schnitten sind die Übergänge fast nicht zu sehen. Während bei „Titanic”, zwischen zwei Cuts im Durchschnitt 4,2 Sekunden vergehen, schafft er in dieser Zeit vier, fünf Transitions, einen Wechsel je Sekunde. Ein Turbotechnikgeballer.
„Meine Fans wollen nachmachen, was ich mache”, sagt Falco Punch. „Die interessieren sich für meine Technik, nicht für mich als Person.”
Nachmachbarkeit ist ein Erfolgsfaktor auf der Plattform, die sich ihren Amateurcharme bewahrt hat. Die erfolgreichste TikTok-Nutzerin mit knapp 90 Millionen Fans, die US-Amerikanerin Charli D’Amelio, sieht aus, wie Sechzehnjährige aussehen, und tanzt zu Chartsongs kurze Choreografien, die dann Millionen versuchen nachzutanzen. Dass ein normaler Teenager der Superstar der App ist, löst bei Leuten, die neu auf TikTok sind, ähnliches Unverständnis aus wie der Inhalt der sekundenkurzen Videos, die einander in einem nie endenden Reizflächenbombardement folgen. Weil: Was heißt hier Inhalt? Tanzvideo, Kochtutorial, Sketch, eine Rikscha-Fahrt, ein Typ, der am Himmel Blitze beobachtet, und immer so weiter.
Kein Zufall aber hat Charli D’Amelio zum Star der App gemacht, sondern ein ausgeklügelter Algorithmus, der sich den Vorlieben der 800 Millionen User derart genau anpasst, dass die tägliche Nutzungsdauer von TikTok im Durchschnitt 46 Minuten beträgt; Facebook kommt auf 35, Instagram auf 28 Minuten. Was wie ein überdrehtes Chaos wirkt, ist das Ergebnis einer sich ständig aktualisierenden Schätzung, welche Inhalte die Aufmerksamkeit erregen und hochhalten.
Charli D’Amelio ist auch nicht irgendeine Teenagerin, sie trainiert, seit sie drei Jahre alt ist. Nur deshalb wirkt das Schwere bei ihr so leicht.
Sieht aus, als könne es jeder. Kann aber fast niemand.
Jedenfalls nicht so.
Auch Falco Punch betont zwar gern, dass er seine Videos allein mit der TikTok-App filmt. Theoretisch brauchen Jugendliche bloß ein Smartphone, keine Kameras und Schnittprogramme, um sie nachzumachen. Aber Falco Punch macht auch gern einen Test: Er gibt sein Handy samt Anweisungen weiter. Langsam drehen. Höher halten. Langsamer. Er erklärt ganz genau, was man tun muss, damit es aussieht wie bei ihm. Aber es sieht nie aus wie bei ihm. Kriegt keiner hin. In jedem Schwenk, in jedem Zoom, jeder Bewegung stecken Jahre der Übung. Nachmachbar, aber unnachahmlich.
„Ich wollte immer berühmt werden, entweder als Fußballer oder als Social-Media-Star”, sagt er. Im Fußball stürmt er bis in die Landesauswahl, geblieben ist ihm vom Nachjagen seiner Träume auf Rasenplätzen der breitbeinige Cowboystand, wie man ihn von Cristiano Ronaldo kennt.
Mit elf, zwölf beginnt er mit seinem besten Freund, Videos zu drehen, Actionfilme. Falco bringt sich bei, Spezialeffekte wie Mündungsfeuer zu erstellen, und lädt die Ergebnisse auf YouTube hoch. „Ich hatte immer eine Konzentrationsschwäche. Aber bei dieser Sache war ich wirklich motiviert. Die Leute warten auf deine neuen Videos.” Schule interessiert ihn weniger, nach dem Hauptschulabschluss macht er eine Ausbildung zum Tischler, Gesellenstück: ein Couchtisch.
Auf einem Geburtstag erzählt ihm ein Kumpel von einer neuen App. Falco Punch ist 19, als er sich auf muscial.ly anmeldet, einer TikTok-Vorläuferin. Er probiert ein paar Formate aus – Comedy und die auf der chinesischen Plattform beliebten Lippensynchronisationen zu Songs – und findet dann zu seinen Transitions. Den Erfolg, der ab da einsetzt, erklärt er maximal unspektakulär: „Ich war immer da. Nie weg. Kontinuierlich, ohne zu nerven.”
Als das chinesische Medienunternehmen ByteDance den Konkurrenten musical.ly kauft und den Namen im August 2018 zu TikTok ändert, knacken Falco Punchs Videos fast jedes Mal eine Million Aufrufe. Manche werden mehr als 15 Millionen Mal gesehen, häufiger als ein „Tatort”. Im Bus erkennen ihn Teenager, Hersteller schicken ihm Pakete voller Markenklamotten. Sein Manager bekommt Anfragen aus Indien, Shopping-Malls wollen ihn für Selfie-Stunden einfliegen. Falco Punch spricht in Videos nicht, und so können ihn alle verstehen, auch TikTok-Nutzer in den boomenden Märkten Asiens. Allein auf den Philippinen hat Falco Punch den TikTok-Statistiken zufolge mehr als 800.000 Fans. Er ist nie dort gewesen, aber er vermutet, er wäre ein Star.
TikTok verspricht, dass alle berühmt werden können, und sei es für 15 Sekunden. Während Facebook und Instagram einem Beiträge von Nutzerinnen anzeigen, denen man folgt, mischt TikTok in seinen „For You”-Feed beliebte Videos – auch von Leuten, die man gar nicht kennt. Auch Nutzer mit wenigen Followern haben so die Chance auf einen viralen Hit. Mit Ausdauer und seinem wiedererkennbaren Stil konnte Falco Punch deshalb schnell aufsteigen. Jetzt allerdings setzt ihn der TikTok-Mechanismus unter Druck, gegen die Masse unbekannter Profile zu bestehen, um seinen Platz oben im Feed und die Aufmerksamkeit des Publikums zu behalten.
Der Algorithmus ist nicht die einzige Unwägbarkeit. TikTok, das soziale Netzwerk aus China, steht in der Kritik. Es unterdrücke Videos über die Proteste in Hongkong, gebe Daten an Chinas Regierung weiter. Falco Punch sagte dazu bloß seine „Ich mache Unterhaltung und habe keine Ahnung von Politik”-Sätze, wie sie Fußballstars vor Turnieren in Schurkenstaaten aufsagen. Bei ihm klingt das so: „Müssen Kinder in der App die Bilder von Straßenschlachten sehen? Wenn ich Nachrichten will, schaue ich die Tagesschau.”
In dieser Tagesschau drohte Donald Trump jüngst, TikTok zu verbieten, sollte kein US-Unternehmen die Plattform übernehmen. Jetzt gibt es wohl einen Deal mit Oracle und Walmart. Andere Länder haben TikTok gesperrt. Allein in den USA nutzen 100 Millionen Menschen die App. 100 Millionen potenzielle Falco-Punch-Fans.Weltpolitik mag ihm egal sein, seine Reichweite ist es nicht.
An einem Julitag sitzt er in der Dunkelheit eines Tonstudios in Berlin-Pankow, einen fettigen Karton Pizza Salami mit Mais auf den Knien. An der Wand lehnt eine Platinplatte von Lenas „Satellite” im Rahmen. Von oben sind Klavierakkorde zu hören, im Wohnzimmer probiert der Produzent Mathias Ramson Akkordfolgen aus, während Falco Punch unten im Kellerstudio Mittagspause macht. „Ich kann nicht singen, aber ich habe ein Gespür für Stimmungen”, sagt er. Schon seit Jahren spielt er Klavier und legt im Bekanntenkreis als DJ auf. Auf seiner Online-Berühmtheit würde er gerne eine Musikkarriere aufbauen, als DJ und Produzent wie Felix Jaehn oder David Guetta.
An diesem Sommertag ist Falco Punch der meistgefolgte Deutsche auf TikTok. Ein paar Wochen zuvor ist seine Debütsingle beim Label Universal erschienen, ein egaler elektronischer Tanztrack namens „1-2-3 Floor”. Prada hat ihn zur Fashionshow nach Mailand eingeladen, beim Deutschen Radiopreis wird er eine Laudatio halten. Er macht Werbung für Samsung, als Jahresverdienst gibt sein Manager einen „mittleren sechsstelligen Betrag” an. Fragt man Falco Punch nach seiner Zukunft, redet er über ein Eigenheim – mit seiner Freundin, einer Psychologiestudentin, sucht er eine Doppelhaushälfte in der Nähe ihrer Familien. Dann spricht er davon, sich „offline einen Namen zu machen”. Er sagt: „Man ist irgendwann auserzählt. Mein Gesicht kann langweilig werden, mein Style sich wiederholen.”
Mit 24 Jahren ist Falco Punch ziemlich alt für TikTok, das Netzwerk der Generation Z, der ab 2000 Geborenen. Wenn er die Videos jüngerer Nutzer sieht, beneidet er sie jetzt manchmal um ihr noch volleres Haar. Und er fragt sich, wer all diese Leute mit Millionen Aufrufen sind. Er hat sie noch nie gesehen.
Lässt man das klischeeglatt gute Influencer-Aussehen von Falco Punch mal weg, wird er zu einem unwahrscheinlichen Star auf Social Media. Er gibt zwar viel von sich preis, seine Freundin Sara und sein Golden Retriever Simba kommen regelmäßig in Videos vor, die er oft im Wohnzimmer des Reihenhauses filmt, in dem er mit seinen Eltern wohnt, weil durch die Glasfront das beste Licht fällt. Aber Falco Punch postet wenig, normalerweise zwei Videos in der Woche. Das machen andere TikTok-Stars am Tag. Man kann sich stundenlang mit ihm unterhalten, ohne dass er aufs Handy schaut, die Benachrichtigungsfunktion von TikTok hat er ausgeschaltet. Seine tägliche Screentime liegt unter drei Stunden, niedriger als bei seiner Freundin.
„Da ist schon Druck. Wenn das letzte Video schlecht gelaufen ist, muss das nächste einschlagen. Wenn das nicht ewig hält, was dann? Am Ende hast du bloß ein hübsches Gesicht. Ich beschwere mich voll oft. Dann denke ich wieder: Warum beschwere ich mich? Das ist das, was man wollte. Geil. Ich lebe meinen Traum…” – er macht eine Pause – „…job”.
Zwei Wochen nachdem er in Berlin an neuer Musik gearbeitet hat, sperrt Indiens Regierung TikTok. Die App sei „eine Bedrohung für die Souveränität und Sicherheit des Landes”; womöglich reagiert die Regierung so auf Kämpfe des Militärs mit chinesischen Truppen im Himalaya. Eine Entscheidung in Delhi, und mit einem Schlag fehlt in Schleswig-Holstein Falco Punch die Aktivität von etwa sieben Prozent seiner Fans. Sie folgen ihm noch, können seine Videos aber nicht mehr sehen und kommentieren. Nach deutschen und philippinischen Jugendlichen sind Indiens Millionen am Smartphone aufwachsender Teenager seine wichtigste Zielgruppe.
Als er im September zwischen Feldern die Turnschuh-Transition dreht, haben seine letzten fünf Videos weniger als eine Million Aufrufe erzielt. In der Rangliste der meistgefolgten deutschen Accounts ist er auf Platz drei gefallen, hinter den Wirtschaftsinformatik-Studenten Younes Zarou, der schon mal einen Monat lang sein Leben durchgängig auf TikTok übertrug, und die Zwillinge Lisa und Lena Mantler, die früheren Teenie-Stars von musical.ly. Falco Punch sagt, ihm sei die Platzierung egal, und es sei auch erleichternd, nicht mehr die Nummer eins zu sein, weil er keine Lust habe, mit Medien zu reden, die nur deshalb mit ihm reden wollten. Manchmal aber habe ihn in den vergangenen Wochen TikTok schon frustriert. Das Video soll eins der letzten sein, bevor er mit seiner Freundin nach Griechenland fliegt, sein erster Urlaub seit sechs Jahren.
Es windet und nieselt. Falco Punch stellt sein Smartphone auf der Straße auf, setzt den Timer von TikTok auf zehn Sekunden, zählt runter, drei, zwei, eins, und tritt mit dem Sneaker vor der Handykamera auf den dunkler werdenden Asphalt auf. Eine Drehung, und er läuft vom Handy weg die Straße runter. Stopp, Cut. Er schaut das Gedrehte auf dem Display an. „Büschen wenig Dynamik”, sagt er auf Norddeutsch. Das nächste Mal: „Falsches Timing.” Autos kommen, und er lässt sie vorbei, Kühe glotzen von der Weide. Falco Punch filmt, löscht, filmt. Irgendwann sagt er: „Das ist geil, ich fühle das.” Dann drückt er auf Standby.