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Capital, 2017

Professionelles Computerspielen entwickelt sich zum Milliardenmarkt. Mittendrin: drei Brüder und Schalke 04

Ganz am Ende, nach fünf langen Turniertagen und einem Finale, das nun vier Stunden dauert, versteckt sich NiKo hinter den Schwaden einer Rauchgranate. Sie liegen 15:13 zurück. NiKo ist der einzige Überlebende seines Teams.

Durch die Spodek-Arena hallen raue NiKo-Rufe. 8000 Fans schauen live das Finale der „Counter-Strike“-Weltmeisterschaft im polnischen Kattowitz. Auf der Bühne, vor Computern, sitzen sich zwei Teams mit je fünf jungen Männern gegenüber – auf den beiden großen Leinwänden schleichen sie als Spezialeinheiten und Terroristen schwer bewaffnet durch die Gassen eines Dörfchens.

Die meisten Fans hier unterstützen NiKos Team FaZe und ganz besonders NiKo selbst: den 20 Jahre alten Bosnier, der erst vor wenigen Tagen zu FaZe gewechselt ist, für angeblich eine halbe Million Dollar Ablöse. NiKo wäre damit der teuerste „Counter-Strike“-Spieler der Welt. In jedem Fall ist er einer der besten.

Doch das gegnerische Team Astralis aus Dänemark muss nur noch diese eine Runde gewinnen. 16:13 – und die Dänen dürften den Weltmeisterpokal mitnehmen und 250.000 Dollar Preisgeld. Die drei überlebenden Astralis-Spieler machen sich auf die Suche nach NiKo.

In der ersten Reihe vor der Bühne knetet der 30 Jahre alte Tomek ein FaZe-T-Shirt zu einer schweißnassen Wurst. Er wollte das rote Trikot eigentlich als Fahne einsetzen, weil sein FaZe-Kapuzenpullover offenbar nicht deutlich genug macht, welches Team er unterstützt. Aber wie er in der letzten halben Stunde das T-Shirt, zu einem Tau verdreht, durch seine Finger gleiten lässt, erinnert es mehr und mehr an eine Gebetskette. Weil Tomek dabei mit dem Oberkörper wippt und eine Glatze hat, sieht er ein bisschen aus wie ein Mönch im Gebet.

In „Counter-Strike“ kämpfen Spezialeinheiten gegen Terroristen. Ziel der Terroristen ist es, eine Bombe zu zünden; die Spezialeinheiten müssen das verhindern, indem sie den Sprengsatz entschärfen oder alle Terroristen erledigen. Die Bildschirme seitlich der Bühne zeigen, wie NiKo eine Bombe deponiert. 40 Sekunden bis zur Explosion. 40 Sekunden, die NiKo noch überstehen muss.

Es ist nur ein Computerspiel, in dem FaZe und Astralis an diesem Märzsonntag um den WM-Titel kämpfen. Aber schon das „nur“ in diesem Satz ist falsch. Elektronischer Sport, oder E-Sport, ist in den vergangenen Jahren zu einem Massenphänomen geworden – und zu einem Milliardenmarkt. 256 Millionen Menschen schauten 2016 anderen gelegentlich oder regelmäßig beim Computerspielen zu, hat das Marktforschungsinstitut Newzoo ermittelt; 2019 sollen es 345 Millionen sein. Das Spielen am Computer, an Konsolen und auf dem Smartphone ist für viele Jugendliche ein so selbstverständlicher Teil ihres Aufwachsens geworden wie YouTube, Hip-Hop und Clearasil-Produkte.

Dem „Counter-Strike“-Profi NiKo folgen so viele Menschen auf Twitter wie Mario Gomez, er hat im vergangenen Jahr Preisgelder in Höhe von 60.000 Dollar gewonnen, und mit den Einnahmen aus Sponsorenverträgen und dem Gehalt seines Teams dürfte NiKo mehr verdient haben als ein durchschnittlicher Fußballer in der Zweiten Bundesliga. Von „E-Sport“ aber hat kaum jemand außerhalb der Gamingszene jemals gehört. Geschweige denn von NiKo.

E-Sport bedeutet: professionelles Spielen, meistens am Computer, manchmal auf Konsolen. 1,3 Milliarden Menschen spielen laut der Newzoo-Studie Computer. 1,3 Milliarden! Und ein E-Sportler wie NiKo verhält sich zu einem durchschnittlichen Computerspieler wie Lionel Messi zum Kreisligastürmer.

Wobei der Vergleich mit Fußball nur zum Teil stimmt. Fußball ist eine Sportart – E-Sport aber bietet extrem viele Disziplinen. Am beliebtesten sind der oft kritisierte Ego-Shooter „Counter-Strike“, das Echtzeitstrategiespiel „Dota“ und „League of Legends“, das sich wohl am ehesten als psychedelisches Blitzschach beschreiben lässt. Richtig ist also ein viel größerer Vergleich: Es gibt elektronischen Sport – und Sport. Vor Letzteren setzen E-Sportler gern das Adjektiv „traditionell“.

Wie aber konnte ein einst wunderliches Hobby wie Computerspielen binnen weniger Jahre ein Millionenpublikum gewinnen? Wenn E-Sport heute ganz am Anfang steht, was wird er dann in zehn Jahren sein? Eine Unterhaltungsindustrie so groß wie Fußball? Größer?

Wer in Deutschland nach Antworten auf diese Fragen sucht, stößt als Erstes auf Ralf Reichert. Danach vielleicht auf seinen jüngeren Bruder Tim. Und dann, wenn man sehr weit zurückgeht im Archiv und schaut, womit E-Sport in Deutschland eigentlich begonnen hat, findet man irgendwann auch den jüngsten der drei Brüder, Benjamin.

Die Erfolgsgeschichte von E-Sport ist auch die Geschichte dieser drei. Die aus der traditionellsten Sportwelt überhaupt kommen – dem Fußball – und alle auf ihre Weise dazu beigetragen haben, dass elektronischer Sport in und aus Deutschland erfolgreich wird. Ralf, der Firmengründer. Tim, der Manager. Und Benjamin, der als Spieler einer der ersten Stars des deutschen E-Sports hätte werden können, aber sich dagegen entschieden hat.

An dem Finalsonntag in Kattowitz trägt Ralf Reichert einen grauen Pullover, Jeans und ausgelatschte Adidas-Turnschuhe. Er wirkt darin nicht wie der Chef eines Unternehmens mit fast 600 Mitarbeitern, und Reichert mag es, damit zu kokettieren. Andererseits sieht er genau so aus, wie man sich den Chef genau dieses Unternehmens vorgestellt hat.

Reichert ist einer der Gründer und Geschäftsführer der Kölner Turtle Entertainment GmbH. Eine ihrer Marken ist die ESL, das stand einmal für Electronic Sports League. Die ESL hat die Arena in Kattowitz gebucht, eineinhalb Wochen lang mehrere Kilometer Kabel verlegen und vier Bühnen aufbauen lassen, sie hat Spieler und Kommentatoren eingeflogen, und sie stellt das Preisgeld, mehr als 650.000 Euro.

Die ESL hat aber auch mehrere Tausend Tickets zu 15 bis knapp 1000 Euro verkauft – und die Übertragungsrechte an TV-Sender und Streamingdienste. Sie hat dem Großsponsor Intel erlaubt, dem Turnier seinen Namen zu geben und sein Gamingzubehör in einer Halle neben der Arena auszustellen. Sie hat Sprite einen riesigen Stand samt DJ-Pult und Tanzfläche vermietet, und sie lässt Gillette-Hostessen kostenlose Rasierer verteilen. Kurz: Die ESL macht mit diesem Turnier ein grandioses Geschäft.

Events wie das in Kattowitz organisiert die ESL in Südkorea und in Malaysia, in Schanghai und in Oakland, in Köln und in Frankfurt. Ein Weltmarktführer, von dem die meisten Deutschen nie gehört haben.

Fragt man Reichert nach dem Grund für den Erfolg von elektronischem Sport, sagt er: „E-Sport ist Sport auf Steroiden.“ Heißt: Die Spiele selbst sind um vieles schneller als Fußball oder Handball. Und um vieles schneller entsteht auch die Industrie um den E-Sport.

Ralf Reichert hat das Potenzial früh erkannt. Mit fünf Geschwistern wuchs er in Oberhausen auf, die Mutter war Hausfrau, der Vater Richter und eine Zeit lang Präsident des Fußballclubs Rot-Weiß Oberhausen. Ralf, 42, der älteste der drei Brüder, gehört zu der Generation, die als erste mit Videospielen aufgewachsen ist. Anfang der 80er-Jahre war es noch nicht selbstverständlich, aber eben auch nicht völlig unerhört, dass ein Achtjähriger auf der Atari 2600 daddelte. Seine Kindheit und Jugend hindurch spielte Ralf Videospiele, aus der Atari-Konsole wurde irgendwann ein Computer, aber der Reiz blieb derselbe: von daheim andere Welten zu entdecken.

Ralf Reichert studierte BWL an der Universität Essen, als 1996 der Ego-Shooter „Quake“ erschien. Mit Schrotflinten und Bolzenschussgeräten jagte man den Gegner durch düstere Gänge. Was heute wirkt wie ein Pixelmassaker, war damals revolutionär fortschrittlich – und das alles in 3D. Quake wurde schnell eines der beliebtesten Spiele der Szene. Seinen vier Jahre jüngeren Bruder Tim hatte Ralf Reichert schon angesteckt; mit „Quake“ kam auch der zwölf Jahre alte Benjamin zum Computerspielen.

Damals spielten einige Hundert, vielleicht auch ein paar Tausend Menschen in Deutschland wirklich leidenschaftlich Computer, also mehrere Stunden am Tag. Sie trafen sich in Garagen und abgedunkelten Kinderzimmern zu LAN-Partys (für Onlinepartien war das Internet viel zu langsam), und manchmal schauten ihnen ein paar Dutzend Leute zu.

Mit Freunden gründeten die Brüder Reichert ein Team. Sie nannten es „Schroet Kommando“, und sie merkten schnell, dass sie gut waren. Bald fuhren die Brüder im Kleinbus zu Turnieren in muffigen Sporthallen in Belgien und Frankreich, schliefen in Schlafsäcken auf dem Boden und nahmen am nächsten Morgen ihre Gegner auseinander.

Einmal, als ihre Mutter zu einem Turnier mitgefahren war, sagte sie erstaunt: „Das ist ja gar nicht so langweilig. Sogar ich könnte mir das anschauen.“ Vielleicht war da endgültig klar, was Ralf Reichert schon lange gespürt hatte: dass E-Sport groß werden würde, richtig groß.

„E-Sport hatte schon damals alles, was erfolgreiche Sportarten auch haben“, sagt Reichert. „Er war schnell, spannend, variantenreich. Ein einzelner Spieler konnte das Spiel entscheiden. Oder die schlechteren Einzelspieler als Team gewinnen. Das war alles da. Es fehlten nur die Zuschauer.“ Und Ralf Reichert beschloss, sie zu dem Spiel zu bringen. Oder: das Spiel zu ihnen.

Mit vier Bekannten gründete er nach dem Studium im Jahr 2000 Turtle Entertainment. Einen Kredit wollte ihnen, fünf jungen Männern Anfang 20, niemand geben. Ein Veranstalter für Computerspielturniere? Absurd. Letztlich überzeugten sie einen Business-Angel. 200.000 D-Mark investierte er in das junge Unternehmen. „Unsere Idee hat er, glaube ich, nur zum Teil verstanden, aber er hat gesehen, dass wir überzeugt von ihr sind“, sagt Reichert.

Zu ihrem ersten Turnier kamen 400 Leute. 300 Teilnehmer und 100 Zuschauer. Es war ein Anfang.

In jener Zeit besuchte Reichert einmal ein U2-Konzert in der Lanxess Arena in Köln. Er hatte schon ein paar Bier getrunken, als er zu seinen Begleitern sagte: „Irgendwann machen wir diese Arena voll.“

Gut zehn Jahre lang sah es nicht so aus, als würde sich Ralf Reicherts Traum erfüllen. Doch dann, ungefähr ab 2010, kamen ein paar Dinge zusammen, die gemeinsam dafür sorgten, dass E-Sport explodierte: Das Internet wurde schneller, und immer mehr Menschen verfügten über Breitbandanschlüsse. 2011 entstand der Streamingdienst Twitch, der vor allem E-Sports-Partien überträgt und mittlerweile Amazon gehört. Über ihn konnten schlagartig Millionen weltweit den Partien zuschauen. Zugleich begann etwas zu wanken, das E-Sport lange den Aufstieg erschwert hatte: die Skepsis der Eltern. Denn Eltern – das sind ja heute Menschen wie Reichert, die selbst mit Computern aufgewachsen sind.

2014 mietete Ralf Reichert die Lanxess Arena für die ESL One Cologne, und das tut er seither jedes Jahr. „Wir sind längst größer geworden als in meinem Traum“, sagt er.

Reichert ist heute so etwas wie der Patriarch der deutschen Gamingszene, der „Ecclestone des E-Sports“, wie ihn die „FAZ“ nannte. Einer, der um Rat gefragt wird. Es wunderte ihn deshalb nicht, als ihn vor einiger Zeit bei einer Podiumsdiskussion ein Mann ansprach. Er suche einen E-Sport-Manager. Ob Reichert einen Tipp habe? Der Kandidat solle selbst E-Sport betrieben haben, sich mit Sportmanagement auskennen – und mit der Kultur eines Fußballvereins wie Schalke 04.

Ralf Reichert fiel nur eine Person ein, die auf diese Beschreibung passte: sein Bruder Tim.

Gelsenkirchen, Veltins-Arena: Im Konferenzsaal Kalwitzki, benannt nach dem ehemaligen Rechtsaußen Ernst Kalwitzki, erleuchtet der Schein der Computermonitore vier blasse Gesichter. An der Wand jubeln Schalke-Helden, die Fenster sind mit Milchpapier beklebt. Während der Nachmittag dahinfließt, bestellen die Jungs Döner und zapfen Espresso, beschweren sich über ihren Teamkollegen Loulex, weil der nach dem Fitnessstudio nicht geduscht hat, und scrollen noch ein bisschen durch Facebook. Und dann, fast unmerklich, beginnen sie zu trainieren.

Als Schalke 04 vor einem Jahr verkündete, in den E-Sport einzusteigen, war das eine Zäsur. Bis dahin waren die meisten deutschen Teams einfach Zusammenschlüsse von Spielern gewesen mit einem Manager oder Coach an der Spitze, der sich um die Organisation kümmerte und oft selbst E-Sportler war, zu alt jedoch und zu langsam, um noch bei Profiturnieren anzutreten. Typen mit Leidenschaft. Gegen sie wirkt ein millionenschwerer Fußballverein wie ein seelenloser Investor.

Wahrscheinlich warb Schalke deshalb Tim Reichert an. Seit einem Jahr leitet der mittlere der drei Brüder in Gelsenkirchen den Bereich E-Sport. Tim Reichert, 37, war ein guter „Quake“-Spieler, einer der besten in Deutschland, aber damals gab es eben noch nicht allzu viele Profis. Ein guter Fußballer war er auch, der es mit Rot-Weiß Oberhausen bis in die zweite Liga schaffte; später studierte er Sport- und Eventmanagement.

„E-Sport ist nicht weniger anspruchsvoll als Fußball“, sagt Reichert. Profigamer bräuchten dieselbe Disziplin, dieselbe Konzentration und Koordination wie andere Athleten. Für Reichert ist es daher nur logisch, dass Schalke 04 E-Sport-Teams gegründet hat – eines für das Fantasy-Blitzschach „League of Legends“, eines für die Fußballsimulation „FIFA“. Schließlich sei der Verein schon immer mehr gewesen als Fußball, mit einem Handballteam und einem Leichtathletikkader. Für Reichert ist die Frage nicht: Warum Schalke? Sondern: Warum nicht auch alle anderen?

Von den Bundesligavereinen hat nur noch der VfL Wolfsburg ein E-Sport-Team. Von vielen anderen weiß man, dass sie sich dafür interessieren. In Europa treten etwa Paris Saint-Germain und Galatasaray Istanbul in Computerspiel-Ligen an.

„Mit E-Sport können wir junge Menschen erreichen, die sich nicht für Fußball interessieren“, begründet Tim Reichert Schalkes Engagement im E-Sport. Sie wollen neue Fans, möglichst junge, die möglichst ihr Leben lang Schalke-Fans bleiben sollen und Schalke-Trikots und Schalke-Tickets kaufen. Und wenn die Kinder heute Computer spielen und Computerspieler anhimmeln, dann braucht Schalke eben auch ein Team von Computerspielern.

Im Raum Kalwitzki sausen Zauberer, Schützen und Meuchelmörder über die Monitore. Eigentlich ist „League of Legends“ ganz einfach: Auf einem Spielfeld verteidigt jedes Team ein Monument, und es gewinnt die Mannschaft, die das gegnerische Bauwerk zerstört. Doch es gibt so viele Möglichkeiten, das zu tun, und alles passiert so blitzschnell und gleichzeitig, dass ein unerfahrener Zuschauer glaubt, er starre auf einen Haufen epileptischer Ameisen, im Zeitraffer.

Bis zu 400-mal klickt ein Profigamer pro Minute auf Maus und Tastatur herum. Die Spieler von Schalke haben dabei noch Zeit, sich zu unterhalten. Also nicht untereinander. Mit ihren Fans. Die schauen ihnen per Stream beim Spielen zu. Je nachdem, wie eng sie mit ihren Stars kommunizieren wollen, bezahlen sie einen bestimmten Betrag: eine weitere Einnahme für die Spieler, neben Gehalt und Sponsorenverträgen.

Die vier Jungs sitzen vor ihren Monitoren, auf Stühlen, die oben gepolstert sind wie Rennfahrersitze: Der Pole Oscar „VandeR“ Bogdan, der Star des Teams, der für manche Jugendliche in seiner Heimat ein größeres Vorbild ist als Robert Lewandowski. Elias „Upset“ Lipp, ein 17-Jähriger aus der Nähe von Koblenz, der gerade die elfte Klasse abgebrochen hat, um E-Sport-Profi zu werden. Der Franzose Jean „Loulex“ Burgevin, der nach seinem Gang ins Fitnessstudio noch nicht zum Duschen gekommen ist, weil er beschlossen hat, erst dann eine Pause zu machen, wenn er ein Spiel verliert. Und Lennart „SmittyJ“ Warkus, der andere Star des Teams, der mit 18 von seinen Eltern in Siegburg wegzog und seitdem von E-Sport lebt. Keiner von ihnen sieht so aus, als hätte er sich in seiner Kindheit erträumt, einmal ein Schalke-Trikot zu tragen. Nun liegen die Trikots mit ihren Namen im Fanshop, online natürlich.

Später kommt noch Marcin „Selfie“ Wolski dazu, ebenfalls Pole und nur „zu 70 Prozent“ fit, weil er sich beim Kraftsport den Nacken verstaucht hat. Teammanager Chris hat ihn zum Arzt gebracht, zu einem, der Polnisch spricht.

Der größte Vorteil, für einen etablierten Verein zu spielen, sei nicht das Geld, sagen die Schalke-Gamer – wobei sie nicht verraten, wie viel sie verdienen –, sondern die Struktur. Das Fitnessstudio; die Ärzte; der Sportpsychologe, bei dem sie mindestens einmal in der Woche eine Teamsitzung haben.

Der Tag der fünf Jungs ist durchgeplant wie der eines Fußballprofis. Nur dass alles etwas später beginnt. 11 Uhr aufstehen, Mittagessen, Fitnessstudio, dann Training: von 15 bis 18 Uhr und von 19 bis 22 Uhr. Danach spielen sie oft noch für sich, und davor eigentlich auch, sodass es wohl nicht übertrieben ist, wenn Elias seine tägliche Trainingszeit mit neun bis 14 Stunden angibt.

Wenn Benjamin Reichert, der jüngste der drei Reichert-Brüder, heute noch einmal 20 Jahre alt wäre – vielleicht würde er unter solchen Bedingungen die wichtigste Entscheidung seines Lebens anders treffen. Tatsächlich aber traf er sie 2002 – nur 15 Jahre her, aber ein anderes Zeitalter.

Er scheint ein unverschämt begabter Mensch zu sein. Reden seine älteren Brüder über ihn, klingt es, als könnten sie manchmal sein Talent nicht fassen, das Körpergefühl, die Koordination. In „Quake“ war Benjamin Reichert um die Jahrtausendwende so gut, dass manche noch heute von ihm sagen, er hätte damals jeden schlagen können, weltweit.

„Er hat immer viel weniger trainiert als wir“, erinnert sich sein ältester Bruder Ralf. „Aber wir hatten trotzdem keine Chance.“ Einige Jahre sah es so aus, als würde aus Benjamin Reichert der erste Star des jungen deutschen E-Sports werden. Doch mit 20 hörte er auf. Er wusste, dass er sich entscheiden musste, wenn er nicht gut, sondern sehr gut werden wollte. Und neben „Quake“ hatte auch er noch das andere Talent der Familie geerbt: das zum Fußballspielen.

2003 debütierte er für Rot-Weiß Oberhausen in der Zweiten Bundesliga. Als Verteidiger blieb er dort zehn Jahre, kickte zeitweise mit seinem Bruder Tim und führte die Mannschaft als Kapitän aufs Feld. Nach dem Ende seiner Profikarriere im Fußball arbeitet er heute als Berater für andere Spieler. Und prüft, ob er künftig nicht auch E-Sportler beraten kann. Nur dass er selbst in den E-Sport zurückkehrt, ist unrealistisch. Genau wie ein Fußballprofi hat auch ein E-Sportler mit Mitte 30 den Zenit überschritten.

Spricht man heute mit Benjamin Reichert, klingt er ein bisschen wehmütig. Manchmal überlegt er, ob er sich nicht doch für E-Sport hätte entscheiden sollen – obwohl er in seinen Jahren als „Quake“-Spieler gerade einmal 20.000 D-Mark gewann. Er war einfach zu früh dran für die gewaltigen Summen, die den E-Sport heute nicht nur für Vereine wie Schalke 04, sondern auch für Unternehmen interessant gemacht haben. Der Umsatz mit Sponsorengeldern, Tickets und Medienrechten wird nach Schätzungen bis 2019 auf über 1 Mrd. Dollar anwachsen. Dreimal so viel wie 2015.

Bis vor Kurzem sponserten nur Firmen wie Intel oder Red Bull Turniere und Teams. Doch nun drängt man auch aus fremden Branchen auf den Markt: American Express, selbst Wüstenrot. Computerspielturniere sind für sie einer der wenigen Orte, um an eine verloren geglaubte Zielgruppe heranzukommen. Wer heute in einem Industrieland jünger ist als 20, hat in seinem Leben womöglich noch nie eine Anzeige in einer Zeitung gesehen, kaum einen Werbespot im Fernsehen, noch weniger im Kino. Wie soll ein Unternehmen sie als Kunden gewinnen?

Vor der Arena in Kattowitz haben Teenager stundenlang auf Einlass gewartet, selfiestickbewaffnet, manche in Begleitung ihrer Eltern, so jung sind sie noch. Laut ESL kommen jedes Jahr einige Mädchen dazu, doch bisher ist der typische Besucher jung, männlich – und so wohlhabend, dass er sich ein Ticket und einen Computer leisten kann.

Tomek etwa, der andächtige FaZe-Unterstützer, wird am Ende des Wochenendes 200 Euro ausgegeben haben, nur für Fanartikel: Trikot, Kapuzenpullover, Armbänder, einen Schal. Manche Kleidungsstücke sind mit sogenannten In-Game-Codes ausgestattet. Die Käufer können damit Figuren in ihren eigenen Spielen aufhübschen: stärkere Rüstung, eine vergoldete Pistole – gegen Geld kann Tomek in „Counter-Strike“ aussehen wie sein Held NiKo.

Dazu bedient E-Sport meisterhaft die Gewohnheiten seiner jungen Zielgruppe. Eine Runde „Counter-Strike“ dauert maximal 1:55 Minuten. Anders als im Fußball passiert ständig etwas. Es macht aber nichts, wenn man mal eine Runde verpasst, weil sich das Smartphone meldet. Denn es gewinnt das Team, das mehr als 15 Runden für sich entscheidet. Deshalb ist klar, dass man bei 14:14 hinschauen sollte. Überraschende Siegtreffer wie im Fußball gibt es nicht.

Nur kurze Zeitspannen, die Aufmerksamkeit fordern, aber mit hoher Reizdichte – mit diesem Prinzip haben Snapchat-Posts bei vielen Jugendlichen Zeitungsartikel abgelöst und einzelne Songs bei Spotify das Musikalbum entthront. Dazu kommt, was schon Youtuber erfolgreich gemacht hat: Nähe. In den Netzwerken teilen auch die Gamer ihr Leben mit ihren Fans. Die können ihren Idolen zudem per Stream beim Training zuschauen, mit ihnen chatten – und sie theoretisch jederzeit treffen. Der Zufall kann Fan und Star in einer Onlinepartie zusammenwürfeln. Eine winzige Chance bei vielen Millionen Spielern, aber eben eine Chance: als würde Lionel Messi auf dem Bolzplatz auftauchen.

In der Spodek-Arena starrt Tomek nun nach vorn auf den riesigen Bildschirm. Er wippt nicht mehr. „Es ist vorbei“, flüstert er, während NiKo von den drei Astralis-Spielern eingekreist wird. Das Sturmgewehr im Anschlag, duckt sich NiKo hinter Ölfässern. Dann geht es schnell. Den schallgedämpften Schuss hört man erst, als NiKo schon am Boden liegt. Die Spieler von Astralis springen von ihren Stühlen auf. Aus dem Bühnenboden schießen Flammen.

Als sie später den Pokal hochheben sollen, wirken die fünf Jungs aus Dänemark etwas ratlos. Ungelenk schieben sie das schwere Ding auf seinem Podest umher. Dann stemmen sie ihn endlich zu fünft in die Höhe. Sie scheinen selbst überrascht, wie groß er ist.