Ein verdammter Mensch
FAS, 2018
Vor zehn Jahren hat sich David Foster Wallace das Leben genommen. Mit dem Abstand und einem neuen Essayband kann man noch mal nachschauen, wer der Überschriftsteller war – und was dann doch eher nicht
Riesige, hundsperfide, wahnsinnig machende Gemeinheit als Prolog: Jeden Satz dieses Textes über David Foster Wallace hätte David Foster Wallace besser geschrieben. Das wirklich Deprimierende ist aber, dass David Foster Wallace nicht nur über sich selbst mit fast unerträglicher Eleganz schrieb, sondern über so viele konturlose, unübersehbar große Dinge. Der elende Journalistenstift starrt aufs blinkende Cursormetronom. Was würde DFW tun? Zack sitzt der Journalistenstift nicht mehr am Laptop, sondern in der knallvollen DFW-Kirche, Fremdwörter, Straßenslang und Weisheit durchziehen die Litanei und vielleicht auch die schweren, süßen Schwaden von Gras.
Vor zehn Jahren, am 12. September 2008, hat David Foster Wallace sich das Leben genommen. Auf den Tod des Großen Amerikanischen Schriftstellers folgten Huldigungen praktisch aller lebenden anderen GAS, ungezählte Foreneinträge von Fans, die schrieben, wie DFW ihnen im wörtlichen Sinn das Leben gerettet habe, Biographien, ein Spielfilm, der ganze messianische Erinnerungskult, der DFW zu einer Art Grunge-Version von Jesus machte: Er, der an ihm verzweifelt war, hatte sich ersatzweise dem Zuviel der Gegenwart ausgesetzt, damit wir es nicht mussten. Amen.
Es tut gut, dass zu seinem Todestag ein Band erschienen ist, der alle DFW-Essays bündelt. Nüchternheit gegen die Verklärung. „Der Spaß an der Sache“ ist ein 1088-Seiten-Klotz, der nichts Neues enthält, zumindest auf Englisch sind alle Texte in früheren Sammlungen zu lesen. Aber das erleichtert die Sache ja eher: Das literarische und journalistische Werk des DFW hat Barockhausopulenz, Prunkwörter in schwingenden Sätzen wird man noch beim x-ten Lesen entdecken, und so kann man nebenher nach Hinweisen suchen, die verraten, wie und warum DFW zum Heiland geworden ist, zum Superstar der amerikanischen Literatur, erschienen in dem Moment, als die amerikanische Literatur zweifelte, noch Superstars hervorbringen zu können.
Seit Beginn seiner Karriere als Schriftsteller schrieb Foster Wallace auch journalistische Texte für Amerikas Magazine, besonders dann, wenn er mit seiner literarischen Arbeit nicht weiterkam. Also oft. „Der Spaß an der Sache“ gliedert seine Sachtexte nach Themen und beginnt mit der frühen Leidenschaft Tennis.
Zwei außergewöhnliche Gaben machten David ein paar Jahre lang zu einem hervorragenden Jugendspieler. Das Logiktalent, die tückischen Wind- und Platzverhältnisse in seiner Heimat, der flachen Provinz in Illinois, zu abstrahieren und ihre Folgen zu antizipieren. Und die „zenartige Akzeptanz der Dinge“, die seine Gegner reihenweise den Schläger in die Ecke knallen ließ. Wenn DFW Jahre später den amerikanischen Tennisspieler Michael Joyce trifft, einen der hundert besten der Welt, aber zu schlecht, um bekannt zu sein, dann kann man nicht anders, als anzunehmen, dass er im Porträt auch über sich schrieb: „Die radikale Verdichtung seiner Aufmerksamkeit und seines Ichs haben ihn zu einem so überragenden Könner in seiner Kunst gemacht – was den wenigsten von uns vergönnt ist.“ Und: „Michael Joyce ist ein vollkommener Mensch (wenn auch auf grotesk eingeschränkte Weise). Aber er will mehr.“
Seit der ersten Veröffentlichung dieser Texte sind durchschnittlich etwa zwanzig Jahre vergangen, das hat ihnen aber ihre kindliche Gegenwartslust nicht genommen. Von den Vergleichen – nie ist etwas „saphirblau“, denn wer weiß, welches Blau ein Saphir hat, eher vielleicht: durchscheinend blau wie ein Windows-Desktophintergrund – über die Themen (Pornos, Kreuzfahrten, Werbesprache) zur Selbstbewusstheit des Autors und der Selbstbewusstheit der Selbstbewusstheit: Foster Wallace hatte einen so orakelhaften Weitblick, dass seine Texte mehr über die Gegenwart verraten als viele Gegenwartstexte.
„Alle Essays“ heißt es auf dem Cover von „Der Spaß an der Sache“. Nur ein lustiger Moment beim Lesen: Foster Wallace hatte keine Ahnung, wie er “Essay” definieren sollte, als ihn ein Verlag bat, die besten amerikanischen Essays des Jahres in seinem Namen herausgeben zu dürfen. Er unterscheidet dann zwischen Sachtexten und Literatur, wobei er dem Unterschied nicht traut. Bei beiden Textsorten „hat man das Gefühl von Drahtseilakten über Abgründen – nur die Abgründe unterscheiden sich. Der Abgrund der Literatur ist das Schweigen, nada. Der Abgrund der Sachliteratur ist das Gesamtrauschen.“ Das Nichts und das Reizflächenbombardement, für DFW waren sie oft das Gleiche.
Seine Methode, das Gegenwartsrauschen zu erfassen, nannte er „giant floating eyeball“. Foster Wallace muss das Außen mit gnadenlosem Mitgefühl gescannt haben, sonst hätte er etwa eine Landwirtschaftsmesse nicht in dem Detailreichtum beschreiben können, dass sie beim Lesen zum Hieronymus-Bosch-Wimmelbild wird. Das Auge rotierte aber auch nach innen. Die Stimmung der Messe, die stumpfe Vergnügungsflucht ihrer Besucher, ist die von Foster Wallace wahrgenommene Stimmung, seine Wahrheit, und die steht über den Tatsachen. Sein Biograph hat haufenweise Beispiele für Erfindungen in DFWs Sachtexten aufgelistet, im Messetext ist die offensichtlichste eine Szene, in der einem jungen Mann auf einem Zipper, einer Art fieserem Riesenrad, seine Crackampulle aus der Tasche fällt, „genau auf einen State Trooper, der in der Budengasse darunter wachsam Zitroneneis aß“. Als ihn ein Student fragte, warum die Messebesucher in ihrer Gleichförmigkeit „viehisch“ wirkten, antwortete der Schreibdozent Foster Wallace: Wenn ihm, dem Studenten, das so ergangen sei, habe er, der Autor, „das Arschlochproblem“ – der Schreiber interessiert sich mehr für sich als das zu Beschreibende.
Womit das Kratzen an der Sankt-David-Statue beginnt. Der echte DFW entsprach nicht der Ikone, die das Bildungsbürgertum auf den Platz in seiner Mitte stellte. Als junger Mann wählte er den Republikaner Ronald Reagan, seine vielen Groupies bildeten die „Bimbo-Brigade“, in einem Essay von 1996, da war er 34, schrieb er über den Thrill von Aids, das Risiko, das aus Kopulieren Erotik macht. Nee. In seiner Verachtung für Journalisten, den „Stiften“, die nur dumme Fragen stellen, hätte DFW seinen Zeitgenossen zur Abwechslung nicht voraus sein müssen. Zumal er selbst den Zusammenhalt seiner älteren Nachbarinnen im Mittleren Westen, in deren Kreis er den 11. September 2001 vor dem Fernseher verbrachte, mit einer Rührung beschrieb wie manche Auslandsreporter Ureinwohner. Zum Bush-Kritiker, der erwog, Senator Obama Reden zu schreiben, wurde DFW viel später.
Doch bloß weil Foster Wallace mit dem Durchschnittsbewohner des Mittleren Westens einige konservative Ansichten teilte, muss man seine Sachtexte dennoch sehr selektiv lesen, um ihn zum Kulturpessimisten zu machen. In „E Unibus Pluram“, einem der bekanntesten Essays, beschreibt er die Wechselwirkung von Literatur und Fernsehen. These: Das Fernsehen hat die Techniken postmoderner Schriftsteller übernommen, das Selbstreferentielle, die Ironie, weshalb post-postmoderne Literatur mehr leisten muss, als die Unterhaltungsgesellschaft zu parodieren, denn das tut sie längst selbst. Auf keinen Fall wollte DFW aber zu den Fernsehen-verdummt-Muffköpfen gehören oder ins Prä-TV-Zeitalter zurück: Ihm war „der Nihilismus dann doch lieber als der Neandertalismus“.
Foster Wallace’ Schwester erzählte mal, dass sie niemanden kannte, der mehr fernsah als ihr Bruder, der Hochintelligente mit Doppelabschluss vom Elitecollege (summa cum laude). „Man kann ausruhen, während man stimuliert wird. Nehmen, ohne zu geben“, schrieb er. Fernsehen war für ihn eine Droge, und wie bei vielen Drogen war er auch für diese empfänglich. Die Frage, was ihn und seine Landsleute viele Stunden am Tag vor den Bildschirm fesselte und was daraus für die Literatur folgen musste, war für ihn existentiell: Als der Essay erschien, arbeitete Foster Wallace seit mehreren Jahren an „Unendlicher Spaß“.
Foster Wallace’ Schluss wurde oft als Abkehr von der Ironie verstanden, einer Ironie, die das Heile-Welt-Amerika der Nachkriegszeit und seine Verlogenheit gesprengt hatte – aber keine neuen Werte bieten konnte, weil sie für nichts stand. „Die nächsten echten literarischen ,Rebellen’“ könnten Antirebellen sein, glaubte DFW, „die die kindliche Unverfrorenheit mitbringen, allen Ernstes eindeutige Prinzipien aufzustellen und zu verfechten. Die schlichte, alte, unmodische menschliche Nöte und Gefühle (. . .) voller Andacht und Überzeugung behandeln.“ Drei Jahre später erschien „Unendlicher Spaß“.
Ein Titel, der (auch) etwas anderes sagt, als er meint – mit seinem Monumentalwerk wollte DFW nicht weg von der Ironie, zumindest nicht völlig. Lieber verband er unterschiedliche Techniken, Stile, Formen und Erzählperspektiven zu einem Rauschen, das Leser nur durchdringen konnten, wenn sie einiges gaben, und „eindeutige Prinzipien“ vertraten die Hauptfiguren genau zwei. Der angeschossene Don Gately weist am Ende die Schmerzmittel zurück – und damit symbolisch alle sedierenden Süchtigmacher der Ablenkungsindustrie. Hal Incandenza, ein Teenager in einer Art Locked-in-Sprachlosigkeit, hofft im ersten Kapitel, dass ihn jemand nach seiner Geschichte fragen wird, weil das Erzählen Erlösung bringt. Echte-Menschen-echte-Gefühle-Kitsch, Wir-müssen-uns-wieder-fühlen-Schwulst, der Beginn einer Neuen Empfindsamkeit? Wirklich nicht. Nichts kommt im DFW-Werk weniger vor als romantische Beziehungen, Liebe.
Aber DFW wollte mehr. Nicht nur die falschen Werte ablehnen wie die Ironie und Don Gately, sondern die zeigen, nach denen es sich in der Gegenwart leben lässt: Literatur, die hilft, „ein verdammter Mensch zu sein“. Am explizitesten tat er das in seiner berühmten Rede „Das hier ist Wasser“ vor College-Absolventen, letzter Text der Sammlung, mit der er an die Fähigkeit des Menschen appellierte, sich in jedem Moment entscheiden zu können, woran er denkt. Weil sich der ungewöhnlich einfache Text mit „Lebe bewusst“ zusammenfassen lässt, wurde DFW für einen Moment zum Achtsamkeitsguru der Nation. Sein Verleger bedauerte später, dass Foster Wallace die Rede gehalten hatte. Drei Jahre nach ihr nahm sich der Lebenserklärer das Leben.
Das ist nur eines der vielen Paradoxe des DFW. Andere sind: Der brillanteste Fernsehkritiker war abhängig vom Fernsehen, er, der über die Verheerungen der Dauerironie klagte, ein großer Ironiker, bei ausverkauften Lesungen sprach er über seine Menschenscheu, für ihre Kritik an der Unterhaltungssucht unterhalten viele Texte recht gut. Und doch steht hinter dem DFW-Riesenwerk ein Wert, das eindeutige Prinzip: Aufrichtigkeit. No Bullshit. Das Versprechen der Ernsthaftigkeit, die Gewissheit, nicht verarscht zu werden (selbst wenn er einen verarschte). In einer Zeit „des so gut wie beispiellosen Zynismus und des Ekels“ war er der bestmögliche Näherungswert an den schalen Begriff Held, einer, dem seine Leser glauben und an den sie glauben konnten.
Letztes Paradox. Den Wittgenstein-Anhänger Foster Wallace, der daran litt, dass nicht einmal die geliebte Sprache die soziale Isolation des Individuums durchbrechen kann, lieben DFW-Anhänger genau dafür: dass er vermitteln konnte, was es heißt, „ein verdammter Mensch zu sein“.