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Superspreader

FAS, 2020

Letztes Wochenende war ich feiern, auf einer Party in Berlin. Legal, draußen und mit Maske, aber ich ahne, was Sie trotzdem denken. Jung und unverantwortlich, potentieller Superspreader. Die zweite Welle surfen, mit der Flasche in der Hand und dem Mittelfinger oben, so erzählt man sich das ja jetzt.

Der Gesundheitsminister Jens Spahn sagte über Berlin, er könne die Bilder „von Partys, die hier stattfinden, nicht verstehen“. In seinem Lagebericht schrieb das Robert Koch-Institut diese Woche mehrfach, das Infektionsgeschehen in der Stadt sei „zum Teil getragen durch junge, international Reisende und Feiernde, die sich unterwegs bzw. auch auf Partys anstecken und diese Infektionen dann in ihren Haushalten und Familien verbreiten“. Das passt ins Bild von der Partyhauptstadt und ihrer legendären Mir-egal-Haltung.

Als ich aber so tanzte, im selbstgewählten Abstand zu jungen Leuten, die fast ohne Ausnahme Maske trugen, weil es hier Security gab, die das kontrollierte, während ich also eine sogenannte Corona-Party feierte, da fühlte ich mich sicherer als im Bus oder mancher Schlange im Supermarkt. Klar, das war nur eine Party – und nur ein Gefühl. Irgendwo in Berlin fanden in dem Moment andere Partys statt, garantiert auch drinnen und ohne Abstand und Masken. Der Regierende Bürgermeister von Berlin, Michael Müller, wird schon Belege haben, wenn er „feierwütiges Volk“ kritisiert und eine Sperrstunde durchsetzt.

Anruf trotzdem beim Robert Koch-Institut: Woher kommt denn der Satz über Berlins Feiernde im Lagebericht? Man erhalte die Auskünfte über die Ansteckungsursachen von den Landes- und Gesundheitsämtern. Anruf also beim Berliner Landesamt für Gesundheit und Soziales: Für Auskünfte möge man sich an die Senatsverwaltung wenden. Bei der Senatsverwaltung für Gesundheit heißt es im Lagebericht vom 14. Oktober, in Berlin seien derzeit 356 von 2878 gemeldeten Fällen Ausbrüchen zugeordnet worden, nur zwölf Prozent. In den allermeisten Fällen bleibt unklar, wo der Ursprung einer Infektion liegt. Bei den rekonstruierbaren Ausbrüchen gäben 54,4 Prozent der Infizierten den Haushalt als Ansteckungsumfeld an, 4,3 Prozent die Freizeit und 3,6 Prozent den Arbeitsplatz, schreibt auf Nachfrage die Senatsverwaltung. Eine Kategorie wie „private Feiern“ gebe es nicht.

Bleiben noch die Gesundheitsämter in den Bezirken, die versuchen, die Fälle zurückzuverfolgen. Frage ans Gesundheitsamt Berlin-Mitte, einem Stadtteil, wo, so stand das letzte Woche auch in dieser Zeitung, jede Nacht „bis in den Morgen ohne alle Vorsicht dicht an dicht getanzt“ werde: Wie viele Infektionen lassen sich hier zu Ansteckungen auf Feiern und in Kneipen zurückverfolgen? Antwort: Man führe keine Statistik über Ansteckungsgründe. Offenbar nicht mal immer eine zum Alter. „Statistische Daten zu Altersgruppen müssten händisch ermittelt werden. Das jedoch übersteigt aktuell die Kapazitäten des Gesundheitsamtes.“

Ich habe Verständnis für den Personalmangel der Behörden. Aber bei so viel Nichtwissen überlegte ich langsam, die zweite FFP3-Maske überzuziehen und für immer mutterseelenallein in meiner Singlewohnung zu bleiben.

Wenn offenbar niemand es wirklich genau weiß, woher kommt dann aber die Selbstsicherheit, mit der Schuldige ausgemacht werden? Im Podcast von „NDR Info“ beschrieb der Virologe Christian Drosten diese Woche, wie schwer sich die Ursache einer Infektion zurückverfolgen lasse, weil sich kaum jemand erinnere, was man eine Woche zuvor genau getan habe. Im Zweifel gäben Leute eher den Haushalt oder eine Familienfeier an, denn die Partnerin habe ja auch Fieber. Dabei stammt das Virus in Wahrheit womöglich vom Sitznachbarn in der Straßenbahn.

Das soll nicht heißen, private Feiern spielten keine Rolle. In Berlin-Neukölln steckten sich immer wieder Gäste großer Hochzeiten an. In ganz Berlin sind die Zwanzig- bis Vierundzwanzigjährigen, also ein potentielles Partypublikum, die Altersgruppe mit der höchsten Inzidenz; mit 157,1 Infizierten je hunderttausend Personen (Stand: 14. Oktober) liegt ihr Wert doppelt so hoch wie im Bevölkerungsdurchschnitt.

Aber was ist das für eine Vorstellung, alle Anfang Zwanzigjährigen in Berlin gingen jedes Wochenende auf Raves? Sehr viele mehr machen einen Mannschaftssport, sie können sich beim Studentenjob oder in ihrer WG anstecken. Auch die Zehn- bis Vierzehnjährigen in Berlin kommen immerhin auf einen Wert von 97,1, und die sind ja eher kein Partyklientel. In Neukölln wurden nicht nur Hochzeitsfeiern und Partys aufgelöst, sondern dort waren letzte Woche auch einunddreißig Schulen von Coronafällen betroffen. Einunddreißig. Aber erneute Schul- und Kitaschließungen zu fordern, macht sehr viel unbeliebter, als irgendetwas von Corona-Partys zu raunen.

Letzter Anruf, dieses Mal bei der Ärztin Sibylle Katzenstein, die in Neukölln eine Covid-Schwerpunktpraxis betreibt. Am Ort mit der höchsten Inzidenz im Bundesgebiet testet ihr Team jeden Tag zwei- bis dreihundert Leute, gut zehn Prozent davon positiv. „Die Infizierten sind ein Querschnitt der Gesellschaft“, sagt Katzenstein. „Schuldzuweisungen sind deplatziert und kontraproduktiv.“ Wer Angst habe, sich für eine Ansteckung schämen zu müssen, mache womöglich gar keinen Test.