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Bimbo oder Babo

DIE ZEIT, 2017

Harun war 17, als er einen Mann ins Koma prügelte. In 24 Stunden kommt er aus dem Gefängnis frei. Wer will er draußen sein?

Donnerstag, 8.45 Uhr. Nur noch 24 Stunden, dann wird er endlich am Tor stehen, Unterhemd, Jogginghose, Nikes, in jeder Hand eine Sporttasche, obendrauf die Entlassungspapiere. Er wird die Schulterblätter zusammenziehen wie vor einem Boxkampf, die Halswirbel werden knacken, der Beamte wird Alles Gute sagen und Auf Nimmerwiedersehen, und im Tor der JVA Adelsheim wird eine Tür aufgehen, und Harun wird frei sein.

Aber noch steht er, 19 Jahre alt, 90 Kilo schwer, knappe zwei Meter, in seiner zahnbelagfarbenen Zelle. Tisch, Schrank, Bett, eine Schachtel Leben. Er streicht die Eins von einem an die Wand geklebten DIN-A4-Blatt. Ein Jahr und acht Monate hat er runtergezählt. Nun trennen ihn nur noch ein Tag und eine Nacht vom letzten Eintrag auf der Liste, in Druckschrift geschrieben und mehrfach umkreist: FREE.

Harun S., angeklagt in 93 Fällen, unter anderem wegen schweren Raubs und versuchten Totschlags. Harun, der Junge mit den Mädchenwimpern, der drinnen eine Maurerlehre gemacht hat und gern an Spielenachmittagen teilnahm. Er hat lange gewartet. Nur was er draußen anfängt, mit sich und der Freiheit, das weiß er noch nicht.

Jetzt fragt er sich: Will er Bimbo oder wieder Babo sein?

Jede Haftentlassung ist ein Risiko. Jeden zweiten der jungen Männer zwischen 14 und 23 Jahren sehen sie in der Justizvollzugsanstalt Adelsheim im Norden Baden-Württembergs wieder. Schwer zu sagen, ob Harun dazugehören wird.

Seine Sozialarbeiterin sagt: „Allein kann er es schaffen. Gefährlich wird es, wenn er wieder mit seinen alten Freunden rumhängt, den Kollegen von der Straße.“

Harun sagt: „Man weiß nie. Ich bin keiner, der die Eier einzieht, wenn jemand Stress macht.“

Aus seinem vergitterten Fenster blickt er auf das graubraune Gefängnisgebäude, auf dem Fenstersims lüften seine Arbeitsschuhe neben einem überquellenden Aschenbecher. Er pustet Rauch aus. Harun sagt: „Was ich wollte, hatte ich. Ich hab gelebt, wie es sich alle Jugendlichen auf der Straße wünschen. Babo eben.“

Nicht dass es im Gefängnis anders war. Allein die Körpergröße und der Umfang seiner Oberarme machen Harun zu einem, der im Jugendknast keine Probleme bekommt. Sondern sie anderen macht. „Kindergartengefängnis“ nennt er die JVA.

Jetzt, an seinem letzten Tag, den ich ihn mit Erlaubnis der Anstalt begleite, verabschiedet er sich von seinen Mithäftlingen und räumt die Zelle aus. Harun beginnt an den Wänden, löst die Fotos seiner Eltern ab, die von seinem Zwillingsbruder Rashid, das von seiner Freundin Nina und ihm, in einem Herz: „Wir gegen den Rest der Welt.“ Dann erzählt er seine Geschichte.

Harun wächst mit seinem Bruder in einer mittelgroßen Stadt in Süddeutschland auf; sie soll ebenso ungenannt bleiben wie sein Nachname. Sein Vater kam einst aus Algerien nach Deutschland, die Mutter ist Deutsche. Er ist Lagerist, sie arbeitet als Verkäuferin bei einem Fischimbiss.

Zwei Dinge faszinieren Harun als Jugendlichen: Boxen – er gewinnt einige Pokale – und „die Straße“. Es reicht trotzdem zum Hauptschulabschluss, danach macht Harun ein paar Zeitarbeit-Jobs. Doch da hat er längst ein viel einträglicheres Geschäft gefunden.

Haruns Karriere beginnt mit 13, so erzählt er es. Er klaut Fahrräder, dann Roller, dann Autos. Räumt das Geld aus Spielautomaten. Mit 15 arbeitet er als Läufer für Dealer, wird bald selber einer. Warum? Weil er sieht, was die sich leisten können, viele von ihnen so jung wie er. Autos, Uhren, Frauen. Ein Leben wie im Hip-Hop-Video. Ein Leben, das auch er will.

Harun kopiert ihr Geschäftsmodell: Kauft in Frankreich Piece oder Kante ein, beides Haschisch, oder Gras in der Schweiz. Verkauft bald auch Kokain, Ecstasy. Überfällt Spielotheken, Juweliere, Boutiquen. Zu seinen besten Zeiten habe er monatlich 40.000 bis 50.000 Euro gemacht, Gewinn, sagt er. „Es war meine Stadt. Man hat gewusst, wer ich bin.“

In seiner Zelle nimmt Harun die Kussbilder seiner Freundin von der Wand. Daneben pappt eine nackte Unbekannte, ausgerissen aus dem Playboy.

Es ist nicht einfach, Harun zu begreifen. Er ist ein Gefangener, der die Beamten grüßt, immer beim Namen, und sei es der falsche. Er bezeichnet sich als gläubigen Muslim, in seiner Zelle steht genau ein Buch: der Koran. Trotzdem trinkt er Alkohol. Die eine Hälfte seines Gefängnislohns will er seinen Eltern geben, „fürs Herz“. Von der anderen mit seinem Bruder in den Puff. Bushido-Logik.

13.45 Uhr, noch 19 Stunden. Harun kniet vor seinem Kleiderschrank, in der Tür steht ein Justizbeamter mit zwei Mülltüten und einer Liste, weil es im Gefängnis für alles Listen gibt. Die unbeliebteste ist die Indexliste. Darauf steht, welche Musik sie hier nicht bestellen dürfen: Azad, Haftbefehl, SSIO, Xatar. Helden der Straße. Irgendwie kommen sie aber meist doch dran.

„Zwei Arbeitshosen?“

„Zwei Arbeitshosen.“

„Ein Gürtel?“

„Ein Gürtel.“

„Zwei Arbeitshemden?“

„Zwei Hemden? Ich hab nur eins. Aber ich find das zweite, Chef.“

Am Ende fehlen: ein Handtuch, ein T-Shirt, ein Arbeitshemd. Ziemlich gut, sagt der Beamte.

Als er Harun allein gelassen hat, kommen dessen Nachbarn aus ihren Zellen, Burkhard, der Boxer, Josef, Rico – von einer Entlassung profitieren auch jene, die nicht entlassen werden.

„Brauchst du Stift, Josef?“

„Hat der Feder?“

„Hat Feder.“

Harun und Josef grinsen. Josef, der Knasttätowierer, der eigentlich anders heißt und seine Werke mit einer Kugelschreiberfeder in die Haut ritzt, obwohl Tätowieren im Knast verboten ist. Und Harun, der den Namen seiner Freundin auf dem Unterarm trägt und einen großen Schriftzug auf den Schulterblättern, den Josef heute Nacht fertig machen muss.

Während Josef abzieht, verteilt Harun Kaffee an Rico, Tabak an den Boxer, das zweite Paar Nikes schenkt er Mirat, und dann steht Kevin in der Tür und fragt nach Vaseline für eine Runde Fünf gegen Willi, so nennen sie das Wichsen hier.

15 Uhr, knapp 18 Stunden. Alles ist verteilt. Harun liegt rauchend auf dem Bett, das ihm zu kurz ist, und lässt zwei mit einer Schnur verbundene Würfel um seine Finger kreisen. Er redet über morgen. Als Erstes Pizza. Oder Döner. Oder Pizza und Döner. Dann feiern mit Kollegen, also Kumpeln. Auf jeden Fall ficken.

Und danach? Er wird zurück zu seinen Eltern ziehen. Seine Mutter hat ihm einen Teilzeitjob an der Kasse besorgt, 20 Stunden die Woche, Bimbo eben, lange wird er das sicher nicht machen. Lieber Fitnesskaufmann oder Security. Obwohl 2.500 bis 3.000 Euro schon wenig sind, jedenfalls nicht das, was er vorher bekommen hat.

Draußen liefen die Geschäfte für Harun irgendwann ein bisschen zu gut. Er trug Nike-Turnschuhe und adidas-Trainingsjacken, Goldketten und Hublot-Uhren. Wenn sie Partys feierten, lud Harun seine Freunde ein, komm, trink noch was, einen noch, auch mal über Silvester in ein Luxushotel in der Schweiz. Es war zu der Zeit, dass Harun vielleicht etwas träge wurde, ein bisschen weniger vorsichtig als zuvor.

Sein Vater findet Grasbeutel und Geldbündel unter Haruns Bett. Riesenärger. Der Vater schmeißt das Gras ins Klo, was er mit dem Geld gemacht habe, wisse er nicht, sagt Harun. War es viel? „Nee. Vielleicht 8.000, 9.000 Euro.“

Mit Kollegen setzt Harun betrunken einen Mercedes CLS gegen einen Baum. Riesenpanik. Fingerabdrücke im Auto. Das sie geklaut hatten. Sie schieben, stoßen, wuchten den Wagen aus dem Graben. Er habe ihn im Rhein versenkt, sagt Harun.

Die absolute Riesendummheit macht er aber beim Zahnarzt. Ein Kollege erzählt Harun, er könne die Qualität seines Kokains testen, wenn er es sich aufs Zahnfleisch schmiere und bei der Behandlung die Betäubung ablehne. Wenn er nichts spüre, sei das Koks gut. Harun spürt nichts. Gar nichts. So wenig, dass er es wieder probiert, auch ohne Termin beim Zahnarzt, wieder und wieder, bis er irgendwann sein bester Kunde ist, drei bis fünf Gramm Kokain am Tag.

Ab jetzt entgleitet ihm die Kontrolle. Harun fliegt aus dem Boxclub, weil er nach einem verlorenen Kampf in die Kabine seines Gegners läuft und auf ihn eindrischt. Er verprügelt konkurrierende Dealer. Alle, die nicht auf seiner Seite sind. Was denkt er heute darüber? „Na ja, was soll ich sagen? Es hat mir Spaß gemacht.“

Auf einer Party fühlt er sich provoziert, schubst einen Mann, der mit dem Kopf auf den Bordstein fällt, Harun tritt jetzt. Koma. Erst viel später wird Harun für diese Tat verurteilt. Versuchter Totschlag.

Und dann kommt jener kalte Januartag vor zwei Jahren, als Harun und drei seiner Kollegen eine G-Star-Filiale überfallen. Mit der Waffe rein, mit den Einnahmen aus dem Tresor wieder raus. So einfach. Sie fahren ein bisschen um den Block, kehren schließlich in die Wohnung eines der Kollegen zurück, ganz in der Nähe der Boutique. So nah am Tatort werde sie niemand vermuten, vermuten sie. Als die Polizei die Wohnung stürmt, wäscht Harun sich gerade im Bad das Gesicht.

Auf den Boden. Hände auf den Rücken, so erzählt er es.

Es hat sich was angesammelt: schwerer Raub, versuchter Totschlag, zahlreiche Verstöße gegen das Betäubungsmittelgesetz. Zwei Jahre und neun Monate Jugendhaft.

Harun, bereust du es?

„Ja.“ Pause. „Dass ich erwischt wurde.“

Wirst du wieder dealen?

„Nein.“

Warum nicht?

„Ich hab genügend Geld gebunkert.“

Noch 15 Stunden, 17.45 Uhr. Babowetter, die Sonne knallt auf den Hof der Justizvollzugsanstalt, Harun zieht sein Unterhemd über den Kopf, wirft träge ein paar Bälle auf den Korb. Eigentlich spielt er ganz gern Basketball, jedenfalls lieber als Beachvolleyball wegen Sand in der Arschritze, aber heute kann er nichts länger als ein paar Minuten machen. Er setzt sich unter einem Baum ins Gras, die Zigaretten zündet er direkt mit der vorherigen an.

„Morgen raus, du Pisser“, sagt Mirat und setzt sich neben ihn.

„Ja, du Hund.“

„Und, was geht?“

„Mal sehen. Chillen, Disco gehen.“

„Was, hast du keinen Plan, Digga? Ich würd sofort Kaltstart nach Amsterdam.“

„Ey, chill mal.“

„Gehst du Freundin?“

„Ich hab gesagt, die soll warten. Mich holt mein Bruder.“

„Geht ihr ficken?“

„Ficken ist safe.“

Harun und Mirat schweigen und ziehen an ihren selbst gedrehten Zigaretten, die immer lange vor Monatsende knapp werden. Tabakkrise, Gott sei Dank ist es damit jetzt vorbei.

„Schreib mal Briefe, Bra“, sagt Mirat, der wie alle hier seine Mithäftlinge „Bra“ nennt, Bruder.

„Auf jeden.“

„Schreibst eh nicht, Bra.“

„Was laberst du.“

„Schwör.“

„Ich schwör auf meine Mutter. Ich schwör sogar auf Gott, Alter.“

„Wallah, laber doch.“

Die Stunde Hofgang ist um, die Jungs trotten durch die Abendhitze zurück zu ihren Häusern, Mirat neben Harun, Spast, Wichser, Fick dich doch, dann stehen die beiden vor Haus G1.

„Ich schreib euch allen, ich schwör.“

Sie umarmen einander.

„Pass auf dich auf, Alter.“

„Mach nicht mehr zu lang hier drin, Bra.“

Die beiden leuchten in der Abendsonne, zwei Schuljungen, von denen nur einer in den Sommerurlaub fährt.
Eine Jugendstrafe soll weniger strafen als zu einem straffreien Leben nach der Haft erziehen, so sieht es der Gesetzgeber vor. Statt nach zwei Jahren und neun Monaten darf Harun das Gefängnis schon gut ein Jahr früher verlassen. Er kann einen Job draußen vorweisen, ein stabiles Umfeld, führte sich im Gefängnis gut.

Was hat das Gefängnis mit dir gemacht?

„Keine Ahnung. Was soll es mit mir gemacht haben?“

Hat es dich verändert?

Er überlegt. „Ich hab 20 Kilo abgenommen hier drin, weil das Essen so scheiße ist.“ Später fällt ihm noch ein: Nach einem kalten Entzug sei er nicht mehr drogenabhängig.

Was war der schwerste Moment in Haft?

„Als meine Eltern mich zum ersten Mal besucht haben. Meine Mutter hat geweint.“

Wie wäre es für dich, noch mal ins Gefängnis zu müssen?

„Natürlich nicht so gut. Aber es ist auch nicht so schlimm. Wir haben hier drin fast alles: Fernsehen, Musik. Nur keine Frauen. Außer Jenny.“

Jenny ist eine leere Tabakdose, die mit Spülschwämmen ausgepolstert wird. Zwischen ihnen bleibt eine Öffnung.

Wirst du wieder ins Gefängnis kommen?

„Soll ich jetzt Nein sagen? Ich weiß es nicht. Kann sein, kann nicht sein. Passiert eben.“

7.45 Uhr, eine Stunde noch. Aus dem CD-Spieler wummern die Bässe durch Haruns Zelle. „Rauch mich high jederzeit und vergesse / Was für Gesetze? Halt deine Fresse“, reimt der Hamburger Rapper Gzuz, Harun singt mit. Der Rauch der Zigarette in seiner Hand steigt zur Decke.

Zeit zu gehen. In der Kleiderkammer nimmt Harun Handy, Geldbeutel und eine Tiffany-Kette entgegen.

An der Zahlstelle: Das fehlende Handtuch, Hemd und T-Shirt kosten 17,90 Euro, nach Abzug dessen erhält Harun 847,81 Euro für seine Tätigkeit in der Gefängnismaurerei.

8.40 Uhr. Der Beamte an der Pforte reicht Harun seine Haftpapiere, Entlassungsbescheid, Arbeitszeugnis, er unterschreibt, ohne hinzuschauen, ja, auf Nimmerwiedersehen.

Die Tür öffnet sich. Morgensonne tastet über sein Gesicht, als Harun durch die Tür tritt und dabei einen Schatten in den Gefängnishof der JVA Adelsheim wirft. Hinter ihm Schatten, vor ihm Licht. Und sein Zwillingsbruder Rashid. Es knallt, als sie einschlagen, einander umarmen.

„Da bist du ja, Bra.“

„Ich bin ein freier Mann, Alter.“

„Du bist vor allem ein Lappen. Warum bist du so dünn? Weißt du, was du draußen verpasst hast? Wie viele Frauen ich gefickt hab? Willst du was rauchen?“

Sie fahren ein paar Hundert Meter mit dem Auto über einen sacht ansteigenden Weg, dann halten sie zwischen Feldern. Die Freiheit riecht nach Kuhscheiße. Sie lehnen sich an die Motorhaube, Rashid zündet einen Joint an. Weit unter ihnen die Gefängnismauern, der funkelnde Stacheldraht. Harun streckt sein Gesicht Richtung Sonne, auf dem Rücken sein neues Tattoo in Frakturschrift. Only God Can Judge Me.

„Bruder“, sagt er irgendwann, „ich hol mir meine Stadt zurück.“

Die beiden knirschen über den Schotterweg davon, einen Führerschein hat keiner. Zwei Brüder auf dem Weg in den Puff oder zu ihrer Mutter, so genau wissen sie das auch nicht.