Ich habe 24 Stunden im Frankfurter Bahnhofsviertel verbracht
VICE, 2019
„Hast Du Zeit für ein bisschen Sex?”
06:41 Uhr
Ich komme aus dem Bahnhof, mit der Lautsprecherwarnung vor „organisierten Bettelbanden”, und dann liegt das Viertel seltsam friedlich vor mir. Zwei Handwerker mit Plastikbechern und Atemdampf vorm Gesicht warten auf die Straßenbahn. Eine Taube pickt Dönerfleisch auf, das vielleicht Kotze ist, die vielleicht Dönerfleischkotze ist. Am Ende der Kaiserstraße, Richtung City, gehen die Lichter an, und nach und nach leuchten die Büroquadrate in den Hochhäusern.
Das Frankfurter Bahnhofsviertel also. Ein Ort mit selbsterklärendem Namen wie der Kotti oder die Reeperbahn. Bevölkerung: gut 3.500, Kriminalitätshotspot und Kulisse für „RTL 2”-Reportagen wegen geiler Ghettoaura. Wo die Gangster Crack inhalierend in Spielhöllen rumhängen, sich Tätowierungen in die Stirn schnitzen und über Herrenhandtaschen reden.
Aber wie authentisch (heftig/krass/hart) ist das Bahnhofsviertel tatsächlich? Ehrlich und echt, weil sich hier die Realität zeigt hinter Politikervokabeln wie Betäubungsmittelmissbrauch und Beschaffungskriminalität? Oder haben sich die zwanzig Laufhäuser und ungezählten Junkies und Dealer längst in ein Freiluftmuseum verwandelt, eine Folkloreveranstaltung mit Gangstern, die weniger auf der Straße rumstehen als am heizstrahlergewärmten Set der Netflix-Serie Skylines?
08:02 Uhr
Vor „übelbeleumdeten Wirtschaften” warnte die Reichsbahndirektion Frankfurt/Main ihre Angestellten, die am Hauptbahnhof eine Pause machten. Das war 1921. Wie vor hundert Jahren führt die Kaiserstraße vom Haupteingang durchs Bahnhofsviertel in die Innenstadt. Strenggenommen betritt man erst mit ihr das berüchtigte Viertel of 069, denn der Bahnhof selbst gehört in der kontraintuitiven Verwaltungslogik zum angrenzenden Gallusviertel.
Am Anfang der Kaiserstraße baut Caglar Hamdi seinen Blumenstand auf. Seit 21 Jahren kommt er auf den Wochenmarkt. Während er mit erdverschmierten Händen Preisschilder sortiert, sagt er: „Alles wird schlimmer, Geschrei hier, Geschrei da. 80 Prozent sind Ausländer ohne Ordnung. Die Ohren würde ich denen gern langziehen. Ich bin auch Ausländer, aber ich habe gelernt, mich ordentlich zu verhalten.” Zum Beweis nickt er einer Stammkundin zu: „Seit es den Euro gibt, kostet bei mir ein kleiner Strauß fünf Euro und ein großer zehn. Das ist Anstand.”
Hamdi erzählt, dass er seine Blumen auf einem Großmarkt in den Niederlanden ersteigert und mit dem LKW in sein Kühlhaus bei Frankfurt schafft. Ich frage ihn, ob er den „Holland Job” kennt, das Album, auf dem Haftbefehl und Xatar erklären, welche Ware sie bevorzugt aus den Niederlanden in den deutschen Wirtschaftskreislauf einführen. Aber Hamdi hört keinen Rap. Sowieso muss er los und ein Beerdigungsbouquet ausliefern, eine Bekannte aus der türkischen Gemeinde ist gestorben.
Die erste Person, die ich im Bahnhofsviertel treffe, importiert also gleich mal im großen Stil aus Holland: Gerbera und Geranien.
08:51 Uhr
Die Kaiserstraße runter, vorbei an den Rollläden der Restaurants, die jetzt hochrattern und die letzten Schlafenden aus den Ladeneingängen vertreiben. Mit jedem Schritt vom Bahnhof weg werden die Abgehängten weniger und die Hosenanzugfrauen mehr, die Altbauten machen Glastürmen Platz. Vor der Tiefgarageneinfahrt eines Hochhauses rauchen zwei Wachleute, er groß und breit, sie klein und mit metallic-pinken Haaren. Objektschutz, sie bewachen ein Gebäude der Deutschen Bahn.
Wie ist es denn so als Wachfrau, Wachmann im Bahnhofsviertel? „Wenn ich Bekannten erzähle, wo ich arbeite, kommt immer: Bahnhof, offene Drogenszene, krass. Aber das ist viel Mythos. Die Konsumenten gehören zum Viertel wie Inventar, mit denen ist alles entspannt. Die Partytouristen, die meinen, sich aufs Maul hauen zu müssen, die sind anstrengend”, sagt sie. „Die Junkies kennen uns, wir kennen sie, und wenn sie ein Problem haben mit BTM, dann helfen wir und rufen den RTW.”
BTM für Betäubungsmittel. RTW für Rettungswagen. Weitere Bahnhofsviertelwörter: Steine (Crack), Chemo-Steine (unsauberes Crack). Ach ja, Crack: Droge Nummer Eins hier, rauchbare Kokainkristalle, die beim Verbrennen krachen und knistern.
09:18 Uhr
Unten am Main, auf einer Parkbank, sitzt Andi und raucht Marihuana aus einem silbrigen Pfeifchen. Neben ihm liegen Schlafsack, Isomatte und Rucksack, ohne sie fiele Andi kaum auf als Obdachloser. Mit 41 sieht er aus wie 30, ein rothaariger großer Junge. Seit sechs Jahren lebt er auf der Straße, freiwillig. „Ich habe 20 Jahre als Landschaftsbauer gearbeitet. Aber mir gefällt die Gesellschaft momentan nicht. Der Termindruck. Hetze und Stress. Da mache ich es mir lieber gemütlich, sammle Flaschen und lese in der Bibliothek.”
Was hat sich geändert in den sechs Jahren, die er im Bahnhofsviertel lebt? „Am Anfang waren wir drei Obdachlose im Hauptbahnhof”, sagt Andi. „Heute sind es 25 und mehr, man grüßt einander nicht einmal. Da gehe ich nicht mehr hin. Alle auf Nadel oder Steine, das ist Scheiße. Und dann die Zigeuner. Die sind gar keine richtigen Obdachlosen, aber nehmen uns unser Pfand weg. Die gehören aus der Stadt geprügelt. Aber AfD wähle ich trotzdem nicht, die sind nicht besser als die FDP.”
11:37 Uhr
Auf dem Weg zum Hauptbahnhof nimmt ein Bauchtaschentyp Augenkontakt auf. Ich gehe vorbei und warte auf sein „Brauchst du was?”. Aber nichts kommt. Als ich hochschaue, sehe ich in seinem Ohr einen hautfarbenen Knopf. Zivilfahnder und Stadtpolizistinnen, Streifenwagen und Mannschaftsbusse: In manchen Momenten scheint es, als bekämen die Dealer und Junkies eine Eins-zu-eins-Betreuung, so viel Polizei ist unterwegs.
Auf der Treppe runter zur B-Ebene, der nach Urin riechenden Einkaufspassage unterm Bahnhof, teilen drei Schüler einen Joint. Woher haben sie ihr Gras, kaufen sie hier? „Nee, Mann, heftige Kontrollen.” Ein älterer Bruder baut selbst an. Wenn ich sehen wolle, wo das Bahnhofsviertel krass sei, müsse ich in die Taunusstraße, zu den Matratzenlagern der Junkies. „Das ist Walking Dead, live.”
Auch die B-Ebene galt einmal als krass, hinter den Säulen verkauften die Dealer, auf den Treppen lagen Süchtige mit Nadel im Arm. Bloß ein paar Jahre ist das her. Jetzt steht Berndré Becker hinter dem Verkaufstisch eines Designerstores und legt T-Shirts zusammen. „069” steht auf der Brust, die Marke heißt „BHFSVRTL”. Berndré, 23, sieht die neue Coolness des Bahnhofsviertels, mit der sich Klamotten verkaufen und Serien vermarkten lassen, zwiespältig. „Was für die einen rough und krass ist, ist für die anderen einfach Leid.”
15:47 Uhr
Am Bahnhof steht eine Koalition von Kampfbereiten der Polizei gegenüber. Angesoffene Fans von „Standard Lüttich”, dem belgischen Club, der am Abend gegen die Eintracht spielt. Bengalos brennen, Flaschen fliegen. Die Bereitschaftspolizisten setzen ihre Helme auf.
Neben mir lehnt an der Hauswand Marko, ein Lüttich-Fan, gutbürgerlich mit Hemd und zurückgegeltem Haar. Marko sagt den Weltklassefußballsatz: „Das ist kein Fußball.” Gewalt gehöre nicht zum Spiel. Nun ja, offensichtlich stimmt auch das Gegenteil. Böller fliegen. Ein neuankommender Gaffer fragt, was hier passiert. Bauchtaschentyp 2, ohne Knopf im Ohr, sagt: „Frankfurt.”
19:41 Uhr
Ich gehe vorbei an einer Table-Dance-Bar, und die Frau davor auf dem Barhocker sagt: „Komm rein, junger Mann.” Sie ist alt, Anfang 60, und hockt da mit der Autorität einer Türsteherin, die alles gesehen hat. „Los, trau dich.”
Rotes Licht fällt durch das Viereck der geöffneten Tür hinter ihr. Drinnen raucht eine Bardame am Tresen. Kein einziger Gast. „Sieht leer aus bei Ihnen.”
„Freu dich, so haben die Damen viel Zeit für dich.”
Sie lacht über diesen aussichtslosen Versuch, und ich sage, was ich mache, Reportage, 24 Stunden. „Ich würde dir gern was erzählen, Junge, aber ich kann wirklich nicht. Wenn mein Name irgendwo abgedruckt wird. Ich habe noch drei Jahre, ich gehe kein Risiko mehr ein.”
„Sie gehen in drei Jahren in Rente?”
„Rente? In dieser Branche gibt es keine Rente.”
20:50 Uhr
Der „Irish Pub” ist knallvoll, klackernde Biergläser, Geplapper und die Fußballkommentatorenstimme. Sofort Trinkerverbrüderung mit Olli und Truyen am Tresen. Olli wartet auf seine Freundin aus Zürich, die er später am Bahnhof abholt. Er kommt aus der Nähe von Gießen, Tätowierer ist er, Punker, kein Fußballfan. Truyen trinkt Whisky Sour und arbeitet in Luxemburg für einen Hedgefonds. IT, Compliance, irgendwas in der Richtung. Wenn ich ihn richtig verstehe, passt er auf, dass die Manager nicht mit Kunden in den Stripclub gehen. „Das kannst du nicht mehr machen. Früher haben sie die Stripperin als Spesen abgerechnet. Wer das heute probiert, kriegt eine Abmahnung.”
23:45 Uhr, ungefähr
Ich stehe vor einem Laufhaus. Puff, Bordell. Der Vorhof zum Strafgericht Gottes. Ja, Mama, du hast es mir eingeimpft: Wer an einem Joint zieht, landet demnächst auf der Straße – wer einen Fuß in ein Bordell setzt, ist schon auf dem Weg in die Hölle.
Vor mir zögern zwei schlingernde Anzug-Jungs.
„Ich gestehe, ich hab ein bisschen Angst.”
„Echt? Warum?”
„Naja, ich weiß, für dich ist das bloß von sexueller Relevanz.”
„Ja, Mann, das macht es so geil.”
„Aber findest du nicht, es gibt eine gesellschaftliche Dimension?”
I feel you, bro. Dann gehe ich rein.
Als Erstes ein Schild: „In diesem Haus herrscht Kondompflicht”. Dann ein gekachelter Gang in violettem Licht. Ein Spalier von Frauen, die an den Türrahmen ihrer Zimmer lehnen.
„Hey Curly, komm rein.”
„Sei nicht schüchtern, Löckchen.”
„Hast du Zeit für ein bisschen Sex?”
Vielleicht sollte ich die Damen im „Haus 44” beschreiben, ihr Aussehen und ihre Berufskleidung. Aber das wäre bloß eine Aneinanderreihung von Klischees. Netzstrumpfhosen, geglättete Haare. Sowieso fällt mir mehr zu meinen Schuhen und dem Muster des Fußbodens ein.
Als ich rauskomme, fühle ich mich wie
a) Google-Rezensent „daut music”, der über seine Erfahrung im „Haus 44” schreibt: „Keine Ahnung ich hab da nur neues Fenster eingebaut”
b) ein Mann, der im Puff war.
00:59 Uhr
Nach diesem Spießrutenlauf erst einmal einen Negroni im „Kinly”: Der dämmrige Keller neben einer Fixerstube ist Deutschlands offiziell beste Bar. Drinnen erklärt ein Brite einer Australierin: „Frankfurt is not Germany.” Ach so. Ich vermute, das Junkielager oben auf dem Gehweg hat sie schockiert. Aber, nee. Im Gegenteil. Sie findet Frankfurt schön großstädtisch, „not like Germany at all”.
Vielleicht beschreibt kein Ort besser das Bahnhofsviertel. Elbestraße 34, Kinly-Bar: Wer 15 Euro für einen Drink aus dem Rotationsverdampfer zahlt, kann entspannt darüber diskutieren, wie undeutsch/ursprünglich/hip/(beliebiges Adjektiv einsetzen) das Bahnhofsviertel ist. Nur ein paar Meter weiter: Elbestraße 38, Drogennotdienst. Wer davor rumhängt, dem können Diskussionen über die Mythisierung des Bahnhofsviertels in Netflix-Serien egal sein, weil ein bisschen realere Probleme drängen.
03:49 Uhr
Ich schäme mich nur ein wenig , als ich zur Bahnhofsmission gehe. Mir ist kalt, ich bin müde. Mein Akku ist leer. Als ich an einem Hauseingang mit Schlafenden vorbeikomme, denke ich für einen Moment, wie schön es wäre, mich dazuzulegen. Dann, dass ich ein dummer Elendstourist bin.
Ich lade mein Handy, als eine Frau in die Bahnhofsmission kommt. „Scheiße, Leute, ich bin so am Ende. Könnt ihr mir ein Bett organisieren?”
„Das geht erst morgen wieder”, sagt der Missionsmitarbeiter.
„Bitte, mir ist kalt. Gebt mir mindestens eine Decke. Oder eine Jacke. Und eine für meinen Freund.”
„Ich gebe Ihnen eine Jacke, aber er muss seine selbst holen.”
„Selbst holen? Okay. Kann er machen. Sein Crack raucht er ja auch allein.”
04:23 Uhr
Wie so viele Nächte endet diese in einem Dönerladen. Zwischen einer österreichischen Abendgesellschaft, die sich mit Grillsauce vollkleckert. Die Ayranrührmaschine rührt Ayran. Der einzige andere Gast, ein junger Mann mit McFit-Armen und Buzzcut, nickt mich an seinen Tisch.
Ich nehme Kaffee, für Rico gibt es Desperados, „mit Limette wegen Vitamine”. Nach ein paar Minuten kommen zwei Kumpels. „Wie, ihr seid schon zurück?”, fragt Rico. „Was seid ihr, Schnellspritzer?”
„Bra, hast du noch Geld da? Mir fehlen fünf Euro.”
Rico gibt ihm einen Fünfziger, und sie verschwinden auf der anderen Straßenseite im Laufhaus. „Ich hab mir geschworen, ich geh da nicht rein”, sagt Rico. „Aber die zwei, Alter, das sind solche Ficker.”
Irgendwann sitzen wir draußen, weil durchgewischt wird, rauchend und zu müde zum Reden. Rico macht „069” an. „Die Banken kratzen an den Wolken/Ich mich am Yarrak, wie komm ich an Euros?”, rappt Haftbefehl. Wir schauen aufs Laufhaus, Männer kommen heraus, die Taxischlange wird kürzer. Wie kommt man an Euros? Als wollten sie eine Antwort geben, gehen in den Hochhäusern die Lichter an.