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In Putins Visier

DIE ZEIT, 2022

Die einzigen Atombomben auf deutschem Boden werden in einem stillen Eifel-Dorf gehütet. Wie lebt es sich als mögliches Ziel eines russischen Angriffs?

Das Erste, was man von Büchel hört und sieht an diesem Frühlingsnachmittag, sind die Tornados. In einem U führt die Bundesstraße 259 am Flugplatz vorbei, von zwei Zaunreihen umgeben, auf denen Nato-Draht-Spiralen thronen. In dem Moment schwillt ein Dröhnen an, über die Baumkronen erhebt sich ein Kampfjet. Im Aufsteigen stößt er hinten ein Wölkchen aus - das Abschalten des Nachbrenners -, dann schießt er als Spitze der Abgasfahne kleiner werdend am wolkenlosen Himmel davon, das Donnern verhallt zum Knattern. Ungefähr 15 Flüge macht das Geschwader am Tag, in Büchel muss man mit Fluglärm klarkommen.

Büchel in der Eifel: 1200 Menschen, eine Bäckerei, eine Aral-Tankstelle, vom Kindergarten geht der Blick auf den Friedhof - das ganze Dorfstillleben wird der Länge nach durchschnitten von der Bundesstraße. Und dann wären da halt noch die 20 Atom­bomben. Höchstwahrscheinlich sind die da, auch wenn es niemand offiziell bestätigt. Der Bundeswehrsprecher macht einen Wir-wissen-von-nichts-Witz, als man ihn danach fragt, was wenige Hundert Meter entfernt vom Bücheler Ortsschild in Grüften unter dem Fliegerhorst des Taktischen Luftwaffengeschwaders 33 lagern soll. Atomwaffen? In Deutschland? Jaja, die soll's geben.

Im Kalten Krieg hatten die Amerikaner Tausende Atomwaffen auf deutschem Boden stationiert, nach dem Fall der Mauer wurden die Stück für Stück zurücktransportiert. Aber die „20 Dinger in Büchel“, wie der damalige Kanzler Gerhard Schröder mal auf gut Schröder-Deutsch sagte, die blieben liegen und liegen - und liegen dort bis heute.

Schon 2005 nannte der Spiegel sie einen „atomaren Anachronismus“. Kampfjets müssten die Bomben abwerfen, und das in einer Zeit von Atomraketen.

„Rein militärisch ist das Verfahren Zweiter-Weltkriegs-Modus“, erklärt Brigadegeneral a. D. Erich Vad, ein Strategie-Experte. „Es müsste schon alles gut gehen, damit ein Tornado unter der russischen Luftabwehr bis, sagen wir, Moskau durchkommt.“ Denn ein deutscher Pilot des fliegenden Old­timers namens Tornado - in Dienst gestellt vor über 40 Jahren - müsste die amerikanische Bombe ans Ziel fliegen und ausklinken, so sieht es die „nukleare Teilhabe“ Deutschlands innerhalb der Nato vor. Unwahrscheinlich, dass der Flieger in Moskau ankäme. Wahrscheinlicher, dass etwas aus Russland in Büchel ankäme. „Ein Stützpunkt, an dem bekanntermaßen Atomwaffen stationiert sind, wäre eines der ersten Angriffsziele für Putin“, sagt der Brigadegeneral a. D.

Und so findet sich das kleine Büchel, seitdem Russlands Präsident angekündigt hat, auch Atomstreitkräfte in erhöhte Alarmbereitschaft zu versetzen, in einem Revival des Kalten Kriegs wieder, das auch etwas Bizarres hat: Zur Zielscheibe macht Büchel eine Waffe, die militärisch wenig nützt, die es offiziell nicht gibt und die niemand aus dem Dorf je gesehen haben dürfte.

Bewacht werden die Atomwaffen von einer amerikanischen Sondereinheit. Und wenn man den Gerüchten glauben will, die durch ältere Artikel wabern, dann müssen sich die wenigen Bundeswehrsoldaten, die zum ­Areal mit den Bombensilos Zugang haben, abwenden und wegschauen, wenn die US-Wachmannschaft an einer Bombe hantiert.

Sorgen sie sich hier in Büchel doch noch ­etwas mehr als anderswo, weil das eigene Haus wenige Äcker entfernt von einem Atomwaffenarsenal steht, dessen Koordinaten den Militärs in Moskau vertraut sein dürften? In der Mitte des Dorfs, über dem Kindergarten, wohnt Maria Sieling, vom Wohnzimmerfenster schaut sie auf den Fliegerhorst. Drei Generationen Sieling sitzen am Kaffeetisch: gegenüber von Frau Sieling ihr Sohn Erwin und ihr Enkel Chris­tian. Maria Sieling ist 90 und die Geschichte des Flugplatzes ein bisschen auch ihre. Beim Bau in den Fünfzigerjahren lernte sie ihren späteren Mann ­kennen, einen der Bauarbeiter, einer ihrer Söhne wurde dann Flugzeugmechaniker, ein anderer ging zur Flughafenfeuerwehr. Nichts Ungewöhnliches in Büchel. „Es gibt fast keine Familie, die nicht mindestens ein Mitglied hat, das auf dem Flugplatz arbeitet“, sagt Chris­tian Sieling. Sogar in Maria Sielings Wohnung haben die Flieger ihre Spuren hinterlassen: Bei einem Tiefflug­manöver eines Starfighters, des Tornado-Vorgängers, sprangen im Bad die Fliesen.

Ja, Angst habe sie schon, sagt Maria Sieling, besonders hier, und nach Corona habe wirklich nicht gleich wieder etwas so Schreckliches passieren müssen, Krieg in Europa. Na ja, Angst - vielmehr gebe es doch eine allgemeine Besorgnis in Büchel wie überall, fällt ihr Enkel Chris­tian ein, der Lokalpolitiker ist und im Gemeinderat sitzt. Er will keinen Stoff liefern für eine Überschrift à la „Angst im Atombombendorf“. Schnell fügt er noch den fast präsidialen Satz hinzu: „Büchel und der Flugplatz gehören zusammen.“

Das Vertraute wird schnell normal, auch wenn es die Nähe zu einer Atombombe ist. „Ich ginge auf die Straße, wenn sie hier ein Atomkraftwerk bauen würden“, sagt Erwin Sieling. „Ich bin gegen Atombomben, ganz klar. Aber so sind die Ge­gebenheiten, und Büchel profitiert davon.“ Beim Metzger, an der Tankstelle, im Dönerimbiss - in allen Läden kaufen die Beschäftigten des Stützpunkts ein, und ohne die Atomwaffen käme vielleicht doch mal eine sparsame Verteidigungsministerin auf die Idee, diesen dichtzumachen.

Draußen in der Märzsonne würde man gern ein repräsentativeres Stimmungsbild der Bücheler Seelenlage gewinnen. Ein Blick die B 259 hoch, ein Blick die B 259 runter - nirgendwo ist ein Bücheler zu sehen. Ein Tarnfleck-Lkw fährt vorbei, oben aus dem Führerhaus nickt ein Soldatengesicht zum Gruß. Vor der Kirche parkt ein Audi A3 mit einem Sticker des 33. Geschwaders - einem weißen Tornado in einem schwarzen Bundesadler - am Kofferraum, wo andere einen Sylt-Aufkleber haben. Der Audi hat ein Kennzeichen aus Calw, wo das KSK, die Eliteeinheit der Bundeswehr, stationiert ist. Da würde man schon gern wissen, wer in dieses Auto einsteigt, aber leider steigt niemand ein.

Etwas ratlos schlendert man herum: Es ist halt ein Dorf. Und die Gefahr ab­strakt. Genauso gut könnte man in Berlin Leute auf der Straße fragen, ob sie Angst vor einem russischen Angriff haben.

Vom Ortsausgang führt ein Feldweg auf die grün lackierten Zaunreihen des Fliegerhorsts zu. Ein paar Minuten Spaziergang, dann steht man vor dem, was der damalige Wehrbeauftragte Hans-Peter Bartels „weder architektonisch noch bautechnisch in besonderer Weise anspruchsvoll“ nannte: dem Zaun. Zwei solide Reihen ohne Schnickschnack, um Friedensaktivisten abzuhalten, die sich immer mal wieder durch den alten Zaun geschnippelt hatten - Kosten für den Neubau: 14 Millionen Euro. Wegen dieser Zahl und einer Bauzeit in BER-Dimensionen führte Bartels den Zaun schon mal als Negativbeispiel für „quälend lange“ Prozesse bei der Bundeswehr an. Immerhin ist der Zaun jetzt voll abwehrbereit. Noch kein Friedensaktivist hat ihn überwunden.

Beobachtet von den Feldjägern, die auf der anderen Seite in Mercedes-Minibussen patrouillieren, kann man einen der teuersten Zäune Deutschlands bewundern, viel mehr aber auch nicht. Auf einer Anhöhe und hinter Bäumen gelegen, sieht man vom Fliegerhorst bloß den ­Tower, die „aktuelle Spannungslage“ gestatte keinen Besuch, heißt es von der Bundeswehrpressestelle. So kann man nur mit denen reden, die dort arbeiten und die im Morgengrauen beim Bäcker in Büchel Kaffee holen, in der Mittagspause Wurstsemmeln oder die nach Feier­abend tanken. Auffällig an diesen Gesprächen: wie extrem nett die meist sehr jungen Männer in ihren olivgrünen Overalls mit Reflektorstreifen sind, als wären sie ehrlich erfreut, dass sich jemand für ihre Arbeit interessiert.

Viel los zurzeit, was?

Der junge Mann in der Fliegerjacke mit den Aufnähern des 33. Geschwaders schaut vom Geldschalter der Raiffeisenbank auf: „Es wird immer mehr.“ Klingt nicht beruhigend, muss man sich Sorgen machen? Er lächelt hinter seiner FFP2-Maske. „Wir passen schon auf.“

Die Vorstellung, wie der junge Mann in einem jahrzehntealten Kampfjet mit Röhrenbildschirm aufs Vaterland aufpasst, stimmt einen dann wirklich etwas gerührt, beruhigend ist sie nicht.

Am nächsten Morgen steht man mit Winfried Müller auf einem Hügel, umgeben von Wiesen und Feldern, die mit ihrem Braun und Grün selbst nach Tarnfleck ­aussehen. Gegenüber liegt der Flugplatz, es riecht nach Gülle. Müller hat einen grauen Schnurrbart und trägt eine Kappe mit dem Logo eines Kampfjets, die Zigaretten raucht er in der hohlen Hand. Erst Wehrdienst, dann Zeitsoldat, später Mechaniker: 45 Jahre arbeitete er auf dem Stützpunkt. Als wäre er noch zur Geheimhaltung verpflichtet und als würde schon das Wort Unglück bringen, warnt er zur Begrüßung: „Zu angeblichen A-Waffen sage ich aber nichts, gell.“

Nicht mal eine klitzekleine Andeutung ihrer Existenz? Wie darf man sich zum ­Beispiel die Zusammenarbeit mit dem amerikanischen Wachtrupp vorstellen? Müllers braune Augen schauen über seine Brillengläser hinweg. „Gibt's denn die Amerikaner?“

Ja, schon, steht sogar auf Wikipedia.

Aber Müller lacht bloß und flutscht zu einer Anekdote weg: Wenn sie als Deutsche früher bei den Amis auf deren ­Base zu Gast gewesen seien, hätten sie beim Fahnenappell immer einen Kameraden die deutsche ­Flagge tragen lassen, der größer gewesen sei als der amerikanische Fahnenträger.

Mit einem Brummen von da, wo auf dem gegenüberliegenden Hügel das Rollfeld verlaufen muss, kündigt sich der Start eines Jets an. Müller kann gerade noch seine ­Meinung zum Tornado kundtun (hoch, so ein Ding würde es bis Moskau schaffen) und zu „Mädchen in Kampfpanzern“ (kann ja nichts werden), dann dröhnen Triebwerke, und mit einem Höllenkrach rauscht ein Tornado über unsere Köpfe hinweg.

Dann starren wieder zwei Männer auf die Anhöhe des Stützpunkts, unter dem die A-Waffen lagern, mutmaßlich.

Zurück im Dorf, fotografieren sich drei Jugendliche vor der Preistafel der Aral-Tankstelle. Sichtbares Zeichen der unsichtbaren Spannung zwischen Ost und West: Das erste Mal in ihrem Leben kostet jede Spritsorte mehr als zwei Euro.

Schräg gegenüber fällt eine besondere Kombination ins Auge: „Russische Spezialitäten“ steht auf einem Banner an einer Hausfassade, in der Einfahrt parkt ein Seat mit ukrainischem Kennzeichen. Beim Näherkommen öffnet eine Frau ein Fenster am Imbiss.

Sie sei in Russland geboren, erzählt Nina Hofmann, und dann schickt sie vorweg, was manche Russlanddeutsche momentan lieber vorwegschicken: „Wir wollen niemandem etwas Böses und sind gegen den Krieg.“ Das Auto gehöre Bekannten aus Winnyzja, südwestlich von Kiew, gestern erst sei die Familie angekommen. „Wir haben ja Platz.“ Dann kommt ihr Mann Alexander aus der Haustür, in der Arbeitsjacke seiner Trockenbaufirma. Wie das so sei, für Neuankömmlinge aus dem Kriegsgebiet, direkt neben einer Militärbasis mit Atomwaffen zu landen? Wieder so eine Schulterzuckantwort: „Sie wissen, dass sie hier sicher sind.“ Er lacht mit Goldzahnblitzen: „Ich mache mir ja auch keine Sorgen. Wenn hier einer angreift, macht es einmal Bumm, und ich bin tot.“

Sorgen mache ihnen, dass die Kundschaft wegbleibe, russische Spezialitäten haben gerade nicht das beste ­Image. Sie wollen jetzt eine Ukraine-Flagge aufhängen.