Black Hollywood
FAS, 2019
Seit Jahren prägt Atlanta, was die Welt hört und sieht, mit einflussreichen Rappern und schlauen Serien. Doch der Boom der schwarzen Kulturhauptstadt gefährdet auch das, was ihren Erfolg begründet hat: die schwarze Kultur
Von den fünfzehn Uber-Fahrern, die ich in Atlanta hatte und mir verrieten, was sie machten, wenn sie nicht für Uber fuhren, waren vier keine Rapper. Eine davon, Gwendra, kannte jedoch einen Rapstar ganz gut. Einige Jahre zuvor hatte sie T.I., Atlantas Hip-Hop-Alterspräsidenten, kennengelernt. Er war gerade aus dem Gefängnis entlassen worden. Drogenbesitz. Gwendra war seine Bewährungshelferin.
Sie hielt mit ihrem Nissan vor der Pizzeria, zu der ich wollte, und suchte im iPhone nach T.I.s Mailadresse. „Oh Mann, sie fängt wirklich mit ‚King‘ an“, sagte Gwendra und diktierte. „Frag ihn nach einem Interview, er wird sich freuen.“ T.I., ein Rapper mit drei Grammys und ebenso vielen Nummer-eins-Alben, sei ein „kleiner, bescheidener Mann“.
Ja, so war das in Atlanta. Praktisch unmöglich, einen Tag durch die Stadt zu zu laufen, ohne von einem nach eigenen Angaben aufstrebenden Rapper den Link zu seinem Mixtape zu bekommen. Kaum eine Subway-Verkäuferin war nicht auf dieselbe Schule gegangen wie André 3000 von Outkast, aber ein paar Jahre nach ihm; jeder Parkplatzwächter kannte einen Cousin, der mit der Managerin des Rappers Future (einer der Superstars Atlantas und der bislang einzige Musiker, der sein Album an der Spitze der amerikanischen Charts mit einer neuen Platte selbst abgelöst hat) oder seinem Produzenten oder seiner Bookerin befreundet war.
Atlanta, keine große Übertreibung, hat sich zu einer Art Kulturhauptstadt der Welt entwickelt. Von hier kommt Trap, das basslastige Untergenre von Rap mit den sphärischen, oft durchs Stimmbearbeitungs-Programm Autotune verfremdeten Texten, das fast zum Synonym für Rap geworden ist. Es gibt Afrotrap, Latinotrap, absichtliche und unabsichtliche Trap-Parodien, also: sehr viel Trap. Und das fast überall auf der Welt. Aus Atlanta stammt sowohl der Namensgeber des Genres, der erwähnte T.I., als auch das Trio Migos, die momentanen Weltstars der Partymusik.
Und in Atlanta wurde nicht nur der Soundtrack der letzten Jahre eingerappt.
Seit der Gouverneur 2008 ein Gesetz unterschrieb, das Filmproduktionsfirmen Steuererleichterungen gewährt, ist der Bundesstaat Georgia zum beliebtesten Drehort Amerikas geworden. 2017 kamen von den einhundert erfolgreichsten Filmen des Landes fünfzehn aus Georgia, fast so viele wie aus Kalifornien (zehn) und New York (sechs) zusammen. Die Science-Fiction-Reihe „Hunger Games“, das Superheldenepos „Black Panther“ – gedreht in Atlantas Filmstudios. Die Stadt dient auch als Kulisse für großartige Serien. Die ersten zwei Staffeln der Netflix-Produktion „Queer Eye“, eine Reality-Show, die diese Bezeichnung zur Abwechslung verdient, spielen in und um Atlanta, und natürlich „Atlanta“ selbst, das Comedy-Drama, mit dem sein Erfinder Donald Glover die wichtigsten Fernsehpreise gewonnen hat.
Trap und viele Filme und Serien aus Atlanta eint, dass es schwarze Kulturgüter sind. Kein Rapstar aus der Stadt, der nicht schwarz ist. „Black Panther“ war der Film, der endlich schwarze Superhelden zeigte, „Atlanta“ die Serie, die eine Lebensrealität von Afroamerikanern abbildete, deren Alltags-Struggle sie so einnimmt, dass sie nicht über den Tag hinausplanen können.
„Wir sind das schwarze Hollywood“, sagte Jeremy Baiden, als wir uns an einem Nachmittag im Tonstudio des Labels LVRN (gesprochen: love renaissance) trafen. Baiden, zweiundzwanzig, klein und mit wilden Dreadlocks, ist einer dieser jungen Kreativen (sorry, kenne echt kein besseres Wort), die mehr Jobs haben als Berufsjahre. Er dreht Musikvideos für den Sänger 6lack. Er sorgt dafür, dass dessen Postings ein stimmiges Bild auf Instagram ergeben. Er stellt für Apples Streamingdienst die aktuellen Hits aus Atlanta zusammen. Und er macht selbst Musik. „Vor einem Jahr ist mir aufgefallen, dass ich vielen Künstlern geholfen habe und noch jung bin“, sagte Baiden. „Da dachte ich, ich könnte es selbst probieren.“
Er schloss sein Handy an die Anlage des Aufnahmeraums an. Per App regulierte er die LEDs an Boden und Decke auf ein warmes Orange. Ein Lied erklang, so satt, wie es bloß in Studios geht. Es wirkte nicht schlechter als ein durchschnittlicher Trap-Song, fiel aber auch durch nichts auf und klang damit genau wie ein durchschnittlicher Trap-Song. Ist es schwierig, so ein Lied zu machen? „Nein, das geht schnell. Es braucht ja keine schlauen Texte im Trap, eher ein bestimmtes Gefühl“, sagte Baiden.
Das bestimmende Gefühl der ersten Trap-Songs in den Nullerjahren von Rappern wie T.I. war es, trapped zu sein, gefangen in der Ausweglosigkeit. Trap, also Falle, hieß in Atlanta der Ort, an dem die zusammenkamen, die nirgendwohin konnten: Ein Crackhaus, wo Dealer und Junkies rumhingen und alle, die das Pech hatten, zwischen Crackhäusern, Dealern und Junkies zu hängen, mit minimaler Chance, es herauszuschaffen.
Heute ist Trap ein Sound, den Gefühl – egal, welches – mehr interessiert als Texte und Technik. Im Gegensatz zu T.I. kommen Migos nicht aus der Trap, aber sie machen Trap. Das Gefühl ihrer Songs ist der Mit-dem-Lamborghini-vorm-Club-vorfahren-Größenwahn. Wer Lieder von Lil Yachty hört, einem anderen Star aus Atlanta, sitzt quasi kiffend auf der Couch, tiefenentspannt, und durchsucht am Smartphone Modeforen nach seltenen Vintage-Jacken. Und es gibt Trap-Stars wie 6lack, der immer weniger rappt und mehr singt, über sein dauergebrochenes Herz, mit einer Stimme, weich und schmierig wie Erdnussbutter.
Als ich Jeremy Baiden bat, ein paar Orte zu zeigen, die er mit Trap verbindet, wurde es dann auch keine Tour zu den mittlerweile privatisierten Sozialbauten der Stadt, Geburtsort vieler Rapper. Nein, Baiden zeigte den Edelstripclub „Magic City“, wo der Legende nach die Migos ihre Weltkarriere begannen, weil zu ihren Songs die Frauen ein bisschen enthusiastischer tanzten. Er führte in eine Boutique in Downtown, die sich auf seltene Designerstücke von Comme des Garçons bis Raf Simmons spezialisiert hat und Lil Yachty und andere coole Internetkids für Shootings einkleidet. Danach landeten wir in einer Skatehalle im südlichen Cascade, wo jedes Wochenende Teenager für Dates auflaufen, weil es sich beim Rollschuhfahren so gut Händchenhalten lässt. Auf dem Skate-Oval, in der Boutique, im Stripclub, während der Fahrt im Autoradio – überall kam Trap.
All diese Welten gab es in Atlanta, und zwischen ihnen noch immer das ursprüngliche Traplanta. Es brauchte wenige Minuten, verstörend wenige, um von Downtown in Viertel wie Vine und Bankhead zu fahren, die in Deutschland Brennpunkte hießen, aber eigentlich kein Äquivalent haben. Im Schatten des futuristischen Mercedes-Benz-Stadiums, in dem im Februar 75.000 Fans den Super Bowl verfolgten, verrotteten die Häuser, die Fensteröffnungen mit Sperrholzplatten zugenagelt oder die Scheiben eingeschlagen, gezackte Blicke ins Innere freigebend auf schemenhafte, apathische Gestalten. Langsam durch die Straßen zu fahren, vorbei an den Junkies, Obdachlosen, Kleindealern und allen Kombinationen daraus, fühlte sich genauso falsch an, wie so eine Ghettosafari falsch ist.
Es verwunderte danach nicht mehr, dass viele Bewohner den Wandel Atlantas mit einem geringen Maß an Alles-wird-schlechter-Pessimismus nahmen. „Was hier passiert, kann man Gentrifizierung nennen – oder Fortschritt“, sagte Jeremy Baiden, der seit seiner Geburt in einem Vorort der Stadt lebt. „Um die Trap trauert nur, wer nie neben einer gewohnt hat.“ Klar gebe es dennoch Leidtragende der Entwicklung: Leute wie ihn. Schwarze, Künstler, schwarze Künstler, jene, die Atlanta zu einer Kulturhauptstadt gemacht haben – bis sie ihnen nun zu teuer geworden ist.
Seit den Neunzigerjahren ist der Anteil der Afroamerikaner an Atlantas Bevölkerung von zwei Dritteln auf gut die Hälfte gefallen. Bald könnten sie im „schwarzen Mekka“, wie Martin Luther Kings Heimatstadt im roten Süden heißt, in der Minderheit sein. Paradoxerweise trägt dazu ausgerechnet der Erfolg ihrer Musik bei. Trap hat Atlanta cool gemacht, zu einer Stadt, in der junge Amerikaner aus dem ganzen Land leben wollen – und Hip-Hop zu einer Milliardenindustrie. Ständig öffnen neue Tonstudios, fast jeder Rapper betreibt ein Restaurant oder einen Barbershop. Seit Kurzem gibt es ein Museum für Trap. Allein im vergangenen Jahr sind die Immobilienpreise im Schnitt um fünfzehn Prozent gestiegen. Hip-Hop im Jahr 2019: ein Ausstellungsstück im Museum, eine Industrie, so groß, dass sie die Gentrifizierung antreibt.
An einem Sonntagmittag kam Danielle Deadwyler in den „Drip Coffee Shop“ nahe dem Flughafen, ein Großstadtcafé mit Backsteinwänden und Macbook-Arbeitern. Drinnen spätes Frühstücksgeklirr, draußen spiegelten sich Passanten in den Fenstern von Vinotheken und Craft-Beer-Bars. „Es ist Wahnsinn, in welchem Tempo sich die Stadt verändert“, sagte Deadwyler. „Als ich hier als Kind gespielt habe, stand an dieser Straße eine winzige Postfiliale inmitten von Brachland.“
Deadwyler ist sechsunddreißig und Schauspielerin. Sie hatte einen Gastauftritt in der Serie „Atlanta“, kürzlich erschien im Kino das Sklavendrama „Jane und Emma“ mit ihr als Hauptfigur. Dank dem Boom von Georgias Filmindustrie muss sie nicht mehr zu Drehs nach New York und Los Angeles pendeln. Morgens fährt sie zu einem der Sets in der Stadt, abends holt sie ihren Sohn von der Schule ab. „Für mich sind die vielen Filmproduktionen in Atlanta ein Geschenk“, sagte sie. „Aber sie bringen auch das große Geld in die Stadt, und das frustriert mich schon. Wir Schwarze haben es so oft erlebt, verdrängt zu werden. Das Geld folgt der Kultur, unserer Kultur. Und die Frage ist, ob es sie kaputtmacht.“
Ja, das ist die Frage. Eine weitere: Warum dieser Wahnsinnserfolg von gleich zwei Kreativindustrien, wieso boomen in Atlanta Film und Musik? Vielleicht weil sich ihr Erfolg immer mehr bedingt. Rapper vermarkten ihre Songs mit YouTube-Videos auf dem Niveau von Miniblockbustern und beschäftigen eigene Filmteams – Fernsehen und Film nutzen Rapper dankbar als Protagonisten. T.I. ließ sich und seine Familie sechs Jahre lang fürs Reality-TV begleiten, gerade sucht er mit einer Castingshow nach einem Manager für sein Firmenimperium.
Während der Tour mit Jeremy Baiden durch Atlanta fragte ich ihn, was aus Trap wird, wenn es in der Stadt bald keine Traps mehr gibt, das Milieu für die Art Hip-Hop weggentrifiziert wird. „Die ersten Trap-Stars sprachen über ihr Leben in der Trap, Gewalt und Drogen“, sagte Baiden. „Die nächste Generation darüber, dass sie es aus der Trap geschafft hatte, Autos, Frauen, Party. Im Moment kippt es erneut. Viele Rapper können es sich leisten, über sich nachzudenken, ihre Einsamkeit, Depressionen. Damit identifizieren sich sogar noch mehr Leute. Und den harten Dealer-Trap gibt es ja weiterhin.“
An einem der letzten Abende in Atlanta ging ich ins „Lacura“, einen Club an einer trostlosen Fernstraße auf der Southside, irgendwas zwischen Teenie-Disko und heruntergekommenem Jugendzentrum. Die Securities am Eingang trugen Schutzwesen und Revolver am Gürtel. Ich war der einzige Weiße und einer der wenigen, der weder einen Joint in der Hand hielt noch ein Gesichtstattoo hatte.
Auf der Bühne, umgeben von einer mannschaftsstarken Entourage, rappte ein Zwanzigjähriger, rote Dreads flogen ihm um den Kopf. Er hieß Lil Keed. Jeremy Baiden hatte ihn empfohlen, er sei der nächste Star der Stadt. Keine Ahnung, ob ich je auf einem schlechteren Konzert war. Playback, Übersteuerungen, und verstand ich doch mal, was Lil Keed ins Mikrofon nuschelte, war es „bitch“ oder „fuck“. Ich erinnere mich aber auch an keines, das annähernd dieselbe Energie hatte. Zweihundert Teenager und ihr kaum älterer Star, vereint durch maximalen Willen und mittlere Textsicherheit: Das schmerzte ein bisschen, aber es wärmte auch, als sei man der Sonne ein Stückchen näher.
Nach dem Konzert drückte ich mich durch zum VIP-Bereich, wo Lil Keed und seine Crew Platz genommen hatten. Ich fragte den Security, ob er den Rapper fragen könne, ob ich ihn ein, zwei Sachen fragen dürfe. Über an Münder gebeugte Ohren landete die Anfrage bei einem, nun ja, Fettwanst neben Lil Keed. Er, ein Typ, der seine fingerdicke Goldkette in einer Nackenfalte verschwinden lassen konnte, kam zur Absperrung der Lounge. Ich sagte, was ich wollte, und er, dass er Lil Keeds Manager sei. Lil Keed hatte zu dem Zeitpunkt 80.000 Follower auf Instagram und keines seiner YouTube-Videos mehr als eine halbe Million Aufrufe. Ein Lokalrapper.
Solange er Lil Keeds Manager sei, sagte der Manager, würde Lil Keed ausschließlich Coverstories für Amerikas größte Magazine machen. So sorry. Er griff in die Bauchtasche des Hoodies und gab mir ein paar Lil-Keed-Aufkleber, als Erinnerung.
Wochen später fand ich sie wieder. Ich tippte „Lil Keed“ bei YouTube ein. Seine neue Single hatte zwölf Millionen Aufrufe, der Rapper einen Vertrag bei einem der größten Labels der Stadt.