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Am Ende der Fremde

Frankfurter Allgemeine Quarterly, 2019

Wenn wir die Koffer packen, träumen wir vom Neuen und Unbekannten, aber dann stellen wir fest: Jeden Zielort scheinen wir irgendwie schon gesehen zu haben, nichts wirkt völlig fremd. Woher stammt dieses Gefühl der Distanzlosigkeit, selbst wenn wir das erste Mal nach Indien fahren?

Im Frühjahr flog ich zum ersten Mal nach Indien, überhaupt war ich noch nie vorher irgendwo in Asien gewesen. Als ich an einem gewächshausfeuchten Abend am Flughafen von Kalkutta in ein Taxi stieg und es mich durch den hupenden, nach Abgase stinkenden Verkehr dem vermutlichen Zentrum der in alle Richtungen wuchernden Stadt entgegenbrachte, dürften meine Augäpfel comicartig aus den Höhlen geploppt sein, vielleicht hing auch die Kinnlade etwas herab.

Die Motorräder, die ganze Großfamilien trugen. Die bunten Lastwagen, die im Grunde aus nicht kompatiblen Ersatzteilen bestanden, ein genialer Schrottplatzchirurg musste sie in konsequenter Verachtung der Naturgesetze zusammengepuzzelt haben. Die Rikschas, Eselskarren, Menschenkarren, Lastenfahrräder, verspiegelten SUVs, Kleinbusse, Großraumtaxis. Dazwischen, in einzigartigem Stumpfsinn, Kühe. Dazwischen, doch kein einzigartiger Stumpfsinn, Menschen, die das staubige Grau der Asphaltüberreste angenommen hatten, und hoffentlich nur deshalb auf der Straße lagen, weil sie schliefen.

„Incredible India“ heißt der Werbeslogan der staatlichen Tourismusagentur. Unglaublich. Er stimmte. Rührung überkam mich, ein kosmisches Einverstandensein mit der Welt. Das Unglaubliche war nicht, dass er so war, der indische Feierabendverkehr. Nein, unglaublich war es, weil es wirklich so war. Wenn ich aus dem heruntergekurbelten Fenster des Taxis schaute, sah ich exakt das, was ich erwartet hatte: Die Szene „indischer Feierabendverkehr“ hatte ich schon hundertmal gesehen.

Zeitschriften, Fernsehen, Internet, sie zeigen uns ungezählte Bilder von praktisch jedem Ort der Welt. Auf eine Nachricht aus Grönland folgt eine Doku über Kokabauern im bolivianischen Bergdorf, nur ein Klick, und die Instagram-Nutzerin in München folgt dem ghanaischen Modeblogger. Wenn wir doch mal auf einen Ort stoßen, von dem wir noch nie gehört, über den wir nichts gesehen haben, können wir uns zumindest mit einem passablen Näherungswert behelfen: Von Guangzhou mögen Sie kein Bild haben, aber von chinesischen Großstädten. Szenen aus dem Feierabendverkehr indischer Metropolen hatte ich in „Slumdog Millionär“, in „Geo“-Reportagen und in „Tagesschau“-Spots über die Gefahren von Feinstaubbelastung gesehen, und das auf zig Arten, die mir nicht mehr einfielen.

Wer reist, reist seinem Bild der Fremde hinterher. Nichts Neues. Als Mark Twain 1867 die erste Kreuzfahrt von den Vereinigten Staaten nach Europa unternahm und in Paris Halt machte, schrieb er über Notre-Dame: „Wir erkannten sofort das monumentale, alte gotische Bauwerk; es sah aus wie auf den Abbildungen.“ Die Zahl der Fotos, die Twain zur Verfügung standen, verhält sich zur Überpräsenz der Bilder heute ungefähr wie eine Diskette zu einer SD-Karte.

Die Google-Dienste Maps und Street View zeigen jeden Ort der Welt außer ein paar Militärbasen, Forschungseinrichtungen und Anwesen paranoider Multimilliardäre. Die knapp 700 Millionen Rezensionen auf dem Reiseportal Tripadvisor verraten, was Touristen an dominikanischen Stränden, an Tankstellen im Irgendwo South Dakotas und in Auschwitz erwartet. Wer reist, reist seinem Bild der Fremde hinterher. Nein. Eigentlich Unsinn. Wer reist, reist seinen Bildern hinterher – Fremde gibt es praktisch gar nicht mehr.

Während ich in Indien war, kam ich irgendwann nach Gangotri. Ein winziger Pilgerort im bergigen Nordosten des Landes, ein paar Kilometer unterhalb der Quelle des Ganges. Zwei Tage hatte es mit dem Auto von der nächsten Stadt gedauert, über endlose Serpentinen schlängelten wir uns in den Himalaya. Als mein Fahrer und ich Gangotri erreichten, war die Luft dünn, und im Schatten lagen Schneeinseln. Über einer Gruppe beflaggter Tempelchen leuchtete der Gletscher des Ganges als weißes Dreieck.

Der Fahrer parkte neben dem einzigen anderen Auto auf dem Parkplatz. Es war zu früh im Jahr für Pilger. Wir stiegen aus. Ein tabakkauender Soldat erhob sich von einer Bank am Rand und kam auf uns zu. Zum Soldaten machten ihn die olivgrüne Wollmütze, Schaftstiefel und eine prähistorische Waffe, die vermutlich aus Beständen britischer Kolonialregimenter stammte. Der Rest des Mannes steckte in einem rotblauen FC-Barcelona-Trainingsanzug aus den Neunzigern.

Irre. Auf 3500 Metern im Himalaya, und der erste Mensch, den du siehst, trägt das globale Kleidungsstück Fußballtrainingsanzug. Der zweite, und ich schwöre, es ist nicht gelogen, hieß Andrew und bot in breiigem Südstaatenamerikanisch ein eingeschweißtes Sandwich an. Er war neben mir der einzige Tourist in Gangotri und wartete darauf, dass das Forstamt den Trekkingweg zur Ganges-Quelle freigeben würde (oder der Soldat ihm die Dollarsumme verriet, ab der er die Wandersaison ausnahmsweise früher eröffnen würde). Dann gab es noch ein paar nepalesische Bauarbeiter, die nach dem Winter die Tempelmauern tünchten und Selfies mit den Ausländern machen wollten. Es hätte mich nun auch nicht mehr gewundert, wenn sie bei der Arbeit Ed Sheeran gehört oder uns auf eine Cola in eine zwischen den Tempeln versteckte Subway-Filiale eingeladen hätten.

Was von der Fremde noch übrig ist, nähert sich an. Millionen Frauen in Asien und Afrika bleichen ihre Haut, um wie Amerikaner- und Europäerinnen auszusehen. Millionen Menschen überall verschulden sich auf Jahre für ein Smartphone. Regisseure in Uganda orientieren sich an Tarantino und finden mit ihren Filmen wiederum in Amerika Fans. Pho-Suppe und Paella bekommen Berliner neben der Currywurstbude. Zugleich nehmen Touristen ihre Welt mit, wenn sie verreisen. Fotos und Sprachnachrichten verbinden mit Daheimgebliebenen, Push-Meldungen liefern Neuigkeiten. Vor Ort erleichtern Unmengen Apps das Zurechtkommen: Tripadvisor empfiehlt Restaurants und Unterkünfte, Uber vermittelt günstige Taxis, Google-Maps weist den Weg. Auf eine ganz konkrete Weise und auf der Metaebene hat die wichtigste Frage früherer Reisender – Wo bin ich? – für heutige Touristen keine Bedeutung mehr.

Wo wir sind, verrät uns metergenau das Smartphone. Meistens interessieren wir uns dafür, wo wir sind, dann aber doch nicht so genau. Denn wer will wirklich ein regionales Gericht essen, wenn es Hahnenfüße sind? Oder die wegsterbenden Dörfer sehen, in denen die Hälfte der Georgier lebt, wenn man stattdessen in Tiflis feiern gehen kann wie in London? Viel Spaß beim Versuch, auf indische Art den Hintern zu reinigen. Vermutlich sind die meisten Touristen ganz froh, dass die Restfremde weniger wird. Wie viel Unterschied macht es mittlerweile noch, durch Vietnam oder Thailand zu reisen? Und gibt es einen einzigen zwischen der Playa de Aro und dem Goldstrand? Sicher. Mir fällt bloß kein bedeutender ein.

Frühe Touristen wollten noch die Eigenheiten von Orten kennenlernen. Ab Ende des 16. Jahrhunderts gingen Söhne aus englischen Adelshäusern auf die „Grand Tour“ durch Europas Kleinstaaten: Sie nahmen Unterricht in lokalen Dialekten, besuchten Gerichtsverhandlungen, sahen Wälle und Getreidekammern. So sollten sie ein Verständnis für die zahlreichen Herrschaftsgebiete bekommen und von ihren Eigenheiten lernen. Heute sind viele dieser Unterschiede verschwunden: Überall in Europa können sich Touristen auf Englisch verständigen, fast überall mit Euro einkaufen, meist sehr ähnliche Produkte. Doch nicht nur die Eigenheit von Orten schwindet – auch die Bedeutung, die Orte für uns haben.

Jahrhundertelang wurde wie selbstverständlich von der Herkunft auf Charaktereigenschaften geschlossen. Wer aus Spanien oder Italien kam, hatte zwar mehr Lebensfreude, aber angeblich ein Problem mit der Arbeitsmoral; das Aufwachsen in einem Schwarzwaldorf erklärte die Sturheit und das Eigenbrötlerische eines Erwachsenen. Der Ort bestimmte die Wahrnehmung des Menschen. Heute wirkt das wie eine unzulässige Verallgemeinerung. Ein Klischee. Ja: Rassismus. Nur noch Alexander Gauland, „Bild“-Zeitung und endorphinisierte Fußballfans schwabulieren vom Temperament des Südens. Das „Wo“ löst sich vom „Wer“.

Niemand fährt heute beispielsweise nach Amsterdam, um die Besonderheit des Ortes kennenzulernen, zum Beispiel die Folgen einer liberalen Drogenpolitik. Leute kommen nach Amsterdam, um legal zu kiffen. Sie wollen im Urlaub sein, wer sie daheim zumindest manchmal gern wären: entspannte Kiffer. Wer heute reist, interessiert sich nur sehr bedingt für die Frage: Wo bin ich? Viel wichtiger ist: Wer bin ich (und wo kann ich so sein)?

Das verbindet Individualreisende mit Pauschaltouristen, Pilger in Mekka mit Campern an der Adria, Fußballfans auf Auswärtsspielen mit Rentnern im Sexurlaub: Alle hoffen, als Touristen Versionen ihrer selbst sein zu können, deren Verwirklichung daheim soziale Konventionen behindern. Urlaub vom Alltag, Reise zu einem besseren Ich. Die Destination ist kein Ort, es sind wir selbst, Reiseziel: uns zu weltgewandten, ursprünglichen, gebräunten, entspannten, besseren Exemplaren zu machen (und Fotos davon).

Smartphones erleichtern es zu reisen, ohne sich mit den Unwägbarkeiten menschlichen Kontakts herumschlagen zu müssen. Und die Empirie zeigt nun mal, dass wir das Angenehme bevorzugen. Überlegen Sie selbst: Wann haben Sie im Urlaub zuletzt so etwas wie ein Gespräch mit jemandem geführt, den Sie nicht bezahlten? Niemand muss mehr nach dem Weg fragen, sich im Gewusel verlaufen und einem Fremden folgen, der einen in der nächsten Gasse abzieht. Aber es lernt auch niemand mehr den Fremden kennen, der einen wirklich gern zum Tee eingeladen hätte. So entsteht keine Nähe, keine Vertrautheit.

Das erzeugt diese wahnsinnige Sehnsucht nach dem Echten, der authentischen Erfahrung: der Osteria, die von drei italienischen Großmüttern betrieben wird; dem Rave mit Teherans Teenagern in verbotenen Untergrund-Clubs. Sogar wenn wir sie aber fänden, würden wir nur lernen, dass Marta, Francesca und Jacky – die Tochter einer italienischen Krankenschwester und eines amerikanischen GIs – die Bestellung auf Englisch aufnehmen können und Teheraner Teenager Nike-Turnschuhe tragen. Was es braucht, um die Eigenheiten von Orten und Personen zu entdecken, haben wir nicht: Zeit.

So ergibt die Entfremdung vom Ort bei gleichzeitiger Annäherung der Orte eine seltsame Distanzlosigkeit: das Gefühl, alles schon gesehen zu haben, aber mit nichts richtig vertraut zu sein.

In Indien las ich ein Buch, das zu Großromanen wie „Ulysses“ und „Krieg und Frieden“ nicht nur wegen des Umfangs passt: Roberto Bolaños „2666“. Dieser Klotz der Gegenwartsliteratur erschien 2004 und enthält mehrere Ortswechsel; die größte Distanz überwinden zwei der vier westeuropäischen Germanisten mit obskurem Interesse an einem verschwunden deutschen Schriftsteller, wenn sie in die mexikanische Grenzstadt Santa Teresa reisen. Bloß überwinden sie nichts, die Distanz zur Gegend bleibt dieselbe wie in der Heimat. Ungewohntes, Exotisches, Erklärungswürdiges? Nada. Weder sind die Protagonisten nah noch fern von etwas, sie stehen in keinerlei Verbindung zur Umgebung. Das Befremdliche ist, dass ihnen nichts fremd ist. Sie versuchen daher gar nicht erst, etwas zu verstehen. Sie haben die Welt gesehen.

Diesen Blick hatte ich auch, als ich durch Indien reiste. Ich glaube, jeder Tourist hat ihn, mal intensiver, mal abgeschwächter. In den letzten Tagen der Reise fiel mir auf, dass ich nie mehr Selfies gemacht hatte als in den vergangenen Wochen. Hatte ich mich doch an eine Geste gewöhnt, die ich bislang in kulturpessimistischen Frühvergreisungsphasen für einen Teil des Weltübels verantwortlich machte? War ich narzisstischer geworden? Trotz Sonnenbrand und Multifunktionskleidung?

Vielleicht. Ich tendiere zu einer anderen Erklärung. Die Selfies dienten der Selbstvergewisserung. Sie waren die unbewusste Antwort auf die Frage: Wo bin ich? Ich bin wirklich da.