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Abdalla

FAS, 2020

Vor ein paar Tagen, als das noch ging, standen Abdalla und ich in der Kassenschlange der Potsdamer Biosphäre, schwitzend in der feuchtwarmen Luft des Tropenhauses unter unseren Masken. Abdalla zeigte auf die Landesflaggen für den Audioguide und fragte, wie viele Sprachen ich spräche. „Drei, und du?“ – „Dann kann ich mehr. Kurdisch, Arabisch, natürlich Deutsch und Englisch. Vier, eine mehr als du.“ Vor uns wartete eine Familie, Mutter, Vater, Tochter, die uns jetzt zuhörte. „Und ganz wenig Persisch aus Afghanistan.“ Vielleicht standen wir etwas zu nah an der Familie, bloß einen Meter entfernt statt eineinhalb. In dem Moment, als Abdalla „Afghanistan“ sagte, sah ich dem Profil des Vaters an, dass er schnaubte, wie er die OP-Maske einsog und den Stoff dann vom Mund wegstieß. Der Mann drehte sich um, schaute Abdalla an und sagte laut zu mir: „Dann sollte er ja wissen, was Abstand heißt.“

Kurz war ich perplex. Dann sagte ich, zu defensiv: „Sorry, ist halt eng.“ – „Trotzdem. Alle anderen schaffen es auch. Und nicht nur zu uns, auch untereinander.“ – „Wir gehören zusammen.“ – „Ist klar, so seht ihr aus.“

Die Kassiererin winkte die Familie an den Schalter, bevor mir etwas einfiel, bloß die Tochter schaute sich zwischen den Beinen ihrer Mutter noch mal um. Abdalla sagte irgendwas ins Handy, als sei nichts passiert. War das normal, wenn man einen Jugendlichen neben sich hatte, der im Schwimmbad aus Versehen die Tür zur Frauenumkleide aufriss und sich in der Straßenbahn trotz Corona auf den Sitz zwischen zwei belegten Plätzen quetschte, angeödete Teenie-Verachtung wie eine Kaugummiblase im Gesicht? Mussten solche Situationen dann einfach passieren, in denen ich den Impuls spürte, mich für uns, also ihn, zu entschuldigen? Mir kam es so vor, als häuften sich diese Momente aber auch deshalb, weil ich anders behandelt wurde mit Abdalla, einem Zwölfjährigen, neben mir, der eine Bauchtasche trug, die Haare zum Boxerschnitt rasiert hatte und am Handy mit seinem Vater Kurdisch sprach, nicht Deutsch oder zumindest Französisch oder Mandarin.

Seit ein paar Monaten machen wir etwas zusammen, wobei wir gar nicht so viel machen. Im Sommer schwammen wir im Orankesee und spielten Tischtennis im Park vor seiner Haustür in Lichtenberg, beim E-Roller-Rennen fuhr mir Abdalla unter dem Fernsehturm davon. Einmal zeigte er mir eine Ausgabe der „B.Z.“ in einer Klarsichtfolie. Die Überschrift der Titelseite war: „Hey, Kate, gib mir deine Nummer!“ Auf dem Foto daneben stand ein Junge auf einer Wiese und streckte sich nach der Umarmung einer Frau im kobaltblauen Kleid, die sich zu ihm runterbeugte. Der Junge war Abdalla, die Frau Herzogin Kate. Auf einem zweiten, größeren Bildausschnitt waren Fotografen hinter rot-weißem Absperrband zu sehen, ein Mädchen in Abdallas Rücken machte eine Schnute, als wartete sie viel länger. Prinz William lächelte das Profi-Lächeln, das sich für den Besuch einer Geflüchtetenunterkunft gehört, so abwesend, als wäre er schon beim nächsten Programmpunkt.

„Alle Kinder aus dem Heim sollten sich aufstellen, fürs Foto. Wir waren richtig viele, zweihundert oder so. Alle stellen sich hin, Prinzessin Kate und William davor, und da bin ich einfach vorgerannt und habe Kate umarmt. Sie war wirklich nett und hat gelacht. Ich habe gesagt, dass sie sehr schön ist und ob sie mir ihre Nummer gibt.“

Andere Kinder warteten, er rannte vor: Das passte ganz gut zu Abdalla. Drei Jahre war das Foto alt, aufgenommen während eines Deutschland-Besuchs des Thronfolgerpaars. Da war Abdalla seit zwei Jahren in Berlin, geboren ist er im nordirakischen Arbil oder, wie er sagt, in Kurdistan. Auch davon zeigte er mir Bilder, auf dem Beifahrersitz wischte er übers Display und hielt mir das Handy hin, während ich ihn mal abends durch die Dunkelheit zur S-Bahn fuhr. Ein Haus, fast eine Villa, davor Palmen und ein Pool. Keine Ahnung, ob es der Vergleich zum herbstgrauen Berlin war oder was ihn darauf brachte, jedenfalls fragte er plötzlich, der sonst selten etwas fragte: „Stimmt es, dass es in Deutschland Nazis gibt, die mich umbringen wollen?“

„Es stimmt, dass Nazis in den letzten Jahren Anschläge begangen und Menschen umgebracht haben, ja.“ – „Weil sie Ausländer sind?“ – „Ja. Oder das, was Nazis für nicht deutsch halten.“ Den Rest der Fahrt sagte Abdalla nichts und schaute Bilder aus Arbil auf dem Handy an. Als wir blinkend vor der Station standen, machte er die Tür auf und hielt mir die andere Hand als Faust hin. „Pass auf dich auf“, wollte ich sagen, als er mit einem Bein auf dem Gehweg war, aber da kam ich mir doch zu kindisch und gleichzeitig wie meine Mutter vor.