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Das Leben bleibt eine Baustelle

ZEIT im Osten, 2025

Constanze Klaue ist die ostdeutsche Regisseurin der Stunde. Gerade hat sie Lukas Rietzschels Bestseller »Mit der Faust in die Welt schlagen« verfilmt – und dabei ihre eigene Biografie schmerzlich freigelegt

Gerade saß man noch im Kino und sah einer sächsischen Familie dabei zu, wie sie versuchte, im neuen Gesamtdeutschland heimisch zu werden und sich etwas aufzubauen, konkret: ein Haus. Der Fortschritt auf dem Bau zeigte den beim Heimischwerden an - und ein wenig auch den des Großprojekts deutsche Einheit Anfang der Nullerjahre. Den Film noch vor Augen, wartet man nun wirklich vor genau diesem Haus, an einem Frühlingsvormittag dieses Jahres, im östlichen Berliner Umland, und denkt: Tja. Könnte besser aussehen. Ein dunkles Dach, das auf zwei helle Stockwerke drückt. Aus der Fassade quillt gelbe Dämmwolle. An der Garage verdorrt ein Hagebuttenstrauch. Der Maschendrahtzaun zur Straße ist umgeknickt, unter einem »Zu verkaufen«-Schild.

»Hoffentlich sind nicht wieder die Waschbären drin«, sagt Constanze Klaue, nachdem sie aus dem Auto gestiegen ist. Dann macht sie einen großen Schritt über den Zaun, an dem ein Briefkasten mit ihrem Nachnamen hängt, und bittet herein, in ihr von der Kinoleinwand so vertrautes Elternhaus.

Darin spielen die beklemmenden Familienszenen von Klaues Debütfilm Mit der Faust in die Welt schlagen. Er basiert auf Lukas Rietzschels gleichnamigem Bestseller, hatte auf der Berlinale Premiere und kommt nun am 3. April in die Kinos. Der Stoff eines maßgeblichen ostdeutschen Autors also, adaptiert von einer gefragten ostdeutschen Regisseurin in einem echten Elternhaus, das im Film zu einem Prototyp wird – das ist das Setting.

Ein paar Zeilen zum Inhalt, bevor es um Klaue gehen soll: Buch und Film sind Sozialstudien über die ostdeutsche Provinz und erzählen vom Rechtsdrift ihrer Bewohner im Nachwendekater. Die Filmhandlung setzt 2006 ein und endet 2015, wird also gerahmt von zwei deutschen Sommermärchen. Doch von der Freude über ein neues, weltoffenes Deutschland - und sei es nur die Freude an sich selbst - dringt wenig vor bis zu Familie Zschornack, deren Haus im Film nicht kurz vor Berlin, sondern in der Oberlausitz steht.

In das Leben der Zschornacks zoomt Klaue hinein, ganz nah an ihre Gesichter: in die der Eltern Sabine und Stefan, auf denen sich Sorgen-falten wie Jahresringe ausbreiten; vor allem aber auf die meist leicht offen stehenden Münder der Söhne Philipp (der ältere, mit Zahnspange und aufgesetzter Coolness) und Tobi (hinter dessen Pausbacken womöglich die wahre Härte wartet). Wenn auch nicht alles, so erscheint am Anfang zumindest noch einiges für sie möglich. Der Rohbau steht, das Geld reicht für Kuchen mit Sprühsahne und die Liebe auch mal für ein Bussi.

Doch bald kommt es, wie es kommen muss – das legt der Film einigermaßen nahe. Vatis Arbeit macht jetzt ein Pole für weniger Geld. Die Mutter radelt zu den Nachtschichten, da der Passat nicht mehr anspringt. Und die unbeaufsichtigten Kinder suchen nach Orientierung und Zugehörigkeit, oder vielleicht nur etwas Spaß, und finden beides bei einem nicht viel Stärkeren in Bomberjacke.

Wenn Constanze Klaue nun eine Tour gibt durch die fast leeren Zimmer, dann läuft in jedem gleich eine Szene vor dem inneren Auge an aus dem Kammerspielalltag der Zschornacks: In der Küche liegt der Heimwerkervater Stefan unter der Spüle und kriegt mal wieder nichts hin - oben im Bad kommt Philipp der Weihnachtskarpfen hoch, das Ausnehmen der Innereien hat ihm auf den Magen geschlagen, dazu die Eiseskälte am Esstisch.

Eigentlich habe sie ihrem Team das Haus nur deshalb als Drehort vorgeschlagen, weil das Budget knapp gewesen sei, sagt Klaue. »Und beim Schreiben hatte ich sowieso immer genau das hier vor Augen.« Sie geht durchs Wohnzimmer, in dem nur noch ein Ikea-Ohrensessel und an die Wand gelehnt die Einzelteile einer Couch stehen, und raus auf die Terrasse. Klaue deutet mitten in den wuchernden Garten und sagt: »Dort war unser Kiesberg.« Mit so einem ähnlichen Schuttberg beginnt Rietzschels Romanvorlage, und das Buch habe sie »direkt reingebeamt in meine Kindheit«.

Wie die Zschornacks mühte sich auch Klaues Familie beim Bau ihres Eigenheims ab. Noch vor dem Mauerfall kauften ihre Eltern das Grundstück hier in Schulzendorf, nicht weit weg vom heutigen Flughafen BER. Damals wohnten sie mit der 1985 geborenen Tochter und deren Bruder in einer Plattenbausiedlung in Berlin-Lichtenberg. Ferien und freie Tage verbrachte man auf der Baustelle. Bei der Autorin Paula Fürstenberg habe sie später die Bezeichnung »Wir Kinder von der Baustelle« für ihre Ost-Generation gelesen und »wahnsinnig treffend« gefunden, sagt Klaue, als Metapher für ein Leben, das ewig im Neuaufbau begriffen ist, in dem man nie wirklich ankommt.

Als Klaue neun war, zog die Familie raus. Wie gut zehn Jahre später die Zschornacks laborierten auch ihre Eltern bald an Ermüdungsbrüchen. Anfang der Neunziger verlor Klaues Vater den Job, das Geld wurde knapp und er zum Alkoholiker - eine der vielen biografischen Parallelen zum Filmstoff. Klaue hat sich in Rietzschels Roman wiedergefunden und in dessen Verfilmung noch mehr von sich hineingeschrieben.

Manches davon nicht mal mit Absicht, wie die Sprachlosigkeit zwischen den Figuren. »Mich hat es überrascht, wie viele mir gesagt haben: Die sind aber hart, die reden ja gar nicht miteinander. Als ich das Drehbuch geschrieben habe, da habe ich nicht beschlossen: So, hier wird nicht gesprochen. Dieser Umgang ist mir einfach sehr vertraut.« Die Distanz komme auch daher, dass »meine Eltern und ihre Generation sich nicht selbstverständlich auskannten in der Welt. Ich kannte mich immer besser aus als sie.« Erst als sie zum Studieren in den Westen ging – Jazzgesang in Osnabrück, später Regie und Drehbuch in Köln –, habe sie gemerkt, dass es auch Eltern gebe, die in der Lage sind, »ihrer elterlichen Pflicht nachzukommen und für ihre Kinder da zu sein«. Das schrieb Klaue 2015 in einem autobiografischen Essay.

Mit der Faust in die Welt schlagen hätte auch eine Anklage werden können an diese Elterngeneration, an Klaues eigene Eltern. Stattdessen hat sie den Film ihrem Vater gewidmet. Der starb einen Tag nachdem Klaue ein Exposé ihres Drehbuchs bei Produktionsfirmen vorgestellt hatte. Zuerst habe sie gedacht, dass sie den Film nicht machen werde, sagt Klaue. Doch dann habe sie ihn »zur Trauerverarbeitung genutzt« und gemerkt, dass die Arbeit daran »auch etwas Heilendes« habe, besonders der Dreh im Haus. »Ich mochte, dass hier wieder Leben einzieht, dass hier etwas Neues passiert.« Ein wenig habe es sich angefühlt, wie noch einmal einzuziehen. Es sei schön, sagt sie, mit dem Film Erinnerungen festgehalten zu haben. Und für die Dreharbeiten wurde auch vieles im Haus repariert und funktionierte – manches zum ersten Mal.

Anders als im Buch wird im Film das Haus der Zschornacks nie fertig. Das Dasein auf der Dauerbaustelle erzeugt ständig Konflikte, die es so ähnlich auch im Leben der Regisseurin gab. Als Constanze Klaue 13 war, trennten sich die Eltern, ihre Mutter zog mit ihr zurück nach Berlin; der Bruder blieb beim Vater, der von Entzügen zu Gelegenheitsjobs taumelte. Wie Stefan Zschornack verlor auch Klaues Vater alles, was ihn einmal ausgemacht hatte. Das Land, das er kannte, den Job, die Familie. Was Klaue den Vater in ihrem Film aber nicht verlieren lässt, ist ein bisschen Restwürde.

»Ich habe nach wie vor viele Vorwürfe an meine Eltern. Aber man muss auch sehen: Wie viel Kapazität hat jemand überhaupt?« Ihr sei wichtig gewesen, »dass man die Härte der Eltern kaum ertragen kann«. Wichtig findet sie jedoch auch, seine Figuren zu lieben. Beides ist dem Film anzumerken. Er zeigt viel in der ungeschönten Direktheit einer Dokumentation. Zugleich bekommen selbst Nebenfiguren eine Backstory, die zu Mitgefühl einlädt. Alle hier, sogar der Dorf-Fascho, werden als Opfer der Verhältnisse gezeichnet.

Ein »übersehenes Milieu« habe sie zeigen wollen, sagt Klaue. Ihr Film bleibt nah an den normalen Leuten, deren nachvollziehbare Sorgen, so hat man das in den vergangenen Jahren ja oft genug gehört, sie dazu gebracht hätten, nach rechts zu rutschen. Klaue tut das, was Politikerinnen und Journalisten gerne fordern (von wem auch immer): die Menschen mit ihren Problemen ernst nehmen.

Kann man auch zu viel Verständnis für sie haben? Kann der Fokus auf die Umstände den Einzelnen entmündigen und etwas wegerklären, etwa die Eigenverantwortung?

»Ich habe mich immer wieder gefragt, ob das jetzt der Erklärfilm dafür ist, wie jemand rechts wird«, sagt Klaue. Und: »Ja, ich habe Angst gehabt, dass der Film so gesehen wird.« Sie habe deshalb auch erzählen wollen, dass man aussteigen kann, dass man eine Wahl hat. Und sie sage oft dazu, dass dies nur eine Geschichte sei, nicht die aller.

Allerdings bleibt auch im Gespräch unklar, wie ein Film nur einen Einzelfall und zugleich ein Milieu zeigen wollen kann. Zumal nicht bloß der Trailer den Stoff als »hochaktuell und gesellschaftlich relevant« bewirbt. Auch Klaue selbst dockt ihn an die Rechtsruckdebatte an, wenn sie bei einem Podiumsgespräch sagt, dass der Film hoffentlich »einen politischen Diskurs anregt«.

Nämlich den über das so bekannte wie umso skandalösere innerdeutsche Gefälle. Der geringe Ostanteil in Führungsjobs, die Gehaltsunterschiede – da verstehe sie »Ohnmacht und das vererbte Gefühl, nicht präsent zu sein«, so Klaue. Vielleicht sei das idealistisch, aber sie glaube, einige seien von der AfD zurückzugewinnen, wenn die Politik diese Ungerechtigkeit doch mal angehe.

Spätestens mit dem Kinostart jetzt ist Klaue eine Ostfilmemacherin. Ihre Abschlussarbeit, der Kurzfilm Lychen 92, spielt auf einem Brandenburger Campingplatz, während in Rostock-Lichtenhagen Autos brennen. Als Nächstes bearbeitet sie Paula Irmschlers Chemnitz-Roman Superbusen. Der bilde mit Rietzschels »Männerperspektive« ein »Yin und Yang«. Doch bei Irmschler tritt der Osten weiter in den Hintergrund. Das wünscht sich Klaue generell. »Ich hoffe, dass das Ostdeutsche etwas selbstverständlich Regionales wird, wie das Allgäu im Allgäu-Krimi, und nicht unmittelbar verbunden mit Nazis und Wende und so weiter.« Kurze Pause, Klaue lacht. »Okay, dazu trage ich mit meinem Film jetzt nicht so viel bei.«

Will sie als Regisseurin irgendwann auch einmal weg von den kleinen Leuten, vom Osten, auch aus der Debattenfalle? »Natürlich denke ich darüber nach, dieses Ostlabel wegzukriegen, weil ich nicht nur das bin.« Sei aber gar nicht so einfach, ihr würden immer wieder attraktive Oststoffe angeboten. Das Interesse daran, und wohl auch die Filmförderung, ist nun mal da. Sie arbeite aber auch an einem Drehbuch über die Komponistin Fanny Mendelssohn Bartholdy, die Schwester von Felix.

In Schulzendorf jedenfalls will Klaue nicht wohnen, ihr Bruder auch nicht, und so steht das Haus bis auf letzte Möbel leer und zum Verkauf. Zum Abschied von dort erzählt die Regisseurin noch von ihrer ersten Erfahrung an einem Filmset. Das war in Berlin und Klaue ein Teenager, der sich für Indiemusik sehr viel mehr interessierte als für die geisterhafte DDR. Doch nach dem Auszug war sie mit ihrer Mutter ausgerechnet in dem Haus gelandet, in dem nun Good Bye, Lenin! gedreht wurde. »Jeden Morgen, wenn ich zur Schule gegangen bin, hatte sich das Haus wieder ein Stück mehr in Richtung DDR entwickelt. Das Szenenbild hat die Wände rosten lassen und alte Mülltonnen aufgestellt – und eines Morgens fuhren Trabis die ganze Straße entlang.«

War das schon eine frühe Lehre? Wohin es einen auch zieht im Leben, die Herkunft hängt einem immer nach.